Interpretation eines bekannten Textes :

„Der Sandmann“ von E.T.A Hoffmann

 

 

 

1. Textbeispiel

 

 

Nicht sonderlich achtete er darauf, daß er dem Professor Spalanzani gegenüber wohnte, und ebensowenig schien es ihm etwas Besonderes, als er bemerkte, daß er aus seinem Fenster gerade hinein in das Zimmer blickte, wo oft Olimpia einsam saß, so, daß er ihre Figur deutlich erkennen konnte, wiewohl die Züge des Gesichts undeutlich und verworren blieben. Wohl fiel es ihm endlich auf, daß Olimpia oft stundenlang in derselben Stellung, wie er sie einst durch die Glastüre entdeckte, ohne irgend eine Beschäftigung an einem kleinen Tische saß und daß sie offenbar unverwandten Blickes nach ihm herüberschaute; er mußte sich auch selbst gestehen, daß er nie einen schöneren Wuchs gesehen; indessen, Clara im Herzen, blieb ihm die steife, starre Olimpia höchst gleichgültig und nur zuweilen sah er flüchtig über sein Kompendium herüber nach der schönen Bildsäule, das war alles. - Eben schrieb er an Clara, als es leise an die Türe klopfte; sie öffnete sich auf seinen Zuruf und Coppolas widerwärtiges Gesicht sah hinein. Nathanael fühlte sich im Innersten erbeben; eingedenk dessen, was ihm Spalanzani über den Landsmann Coppola gesagt und was er auch rücksichts des Sandmanns Coppelius der Geliebten so heilig versprochen, schämte er sich aber selbst seiner kindischen Gespensterfurcht, nahm sich mit aller Gewalt zusammen und sprach so sanft und gelassen, als möglich: »Ich kaufe kein Wetterglas, mein lieber Freund! gehen Sie nur Da trat aber Coppola vollends in die Stube und sprach mit heiserem Ton, indem sich das weite Maul zum häßlichen Lachen verzog und die kleinen Augen unter den grauen langen Wimpern stechend hervorfunkelten: »Ei, nix Wetterglas, nix Wetterglas! - hab auch sköne Oke - sköne Oke!« - Entsetzt rief Nathanael: »Toller Mensch, wie kannst du Augen haben? - Augen - Augen? -« Aber in dem Augenblick hatte Coppola seine Wettergläser beiseite gesetzt, griff in die weiten Rocktaschen und holte Lorgnetten und Brillen heraus, die er auf den Tisch legte. - »Nu - Nu - Brill - Brill auf der Nas su setze, das sein meine Oke - sköne Oke - Und damit holte er immer mehr und mehr Brillen heraus, so, daß es auf dem ganzen Tisch seltsam zu flimmern und zu funkeln begann. Tausend Augen blickten und zuckten krampfhaft und starrten auf zum Nathanael; aber er konnte nicht wegschauen von dem Tisch, und immer mehr Brillen legte Coppola hin, und immer wilder und wilder sprangen flammende Blicke durcheinander und schossen ihre blutrote Strahlen in Nathanaels Brust. Übermannt von tollem Entsetzen schrie er auf.- »Halt ein! halt ein, fürchterlicher Mensch - Er hatte Coppola, der eben in die Tasche griff, um noch mehr Brillen herauszubringen, unerachtet schon der ganze Tisch überdeckt war, beim Arm festgepackt. Coppola machte sich mit heiserem widrigen Lachen sanft los und mit den Worten: »Ah! - nix für Sie - aber hier sköne Glas« - hatte er alle Brillen zusammengerafft, eingesteckt und aus der Seitentasche des Rocks eine Menge großer und kleiner Perspektive hervorgeholt. Sowie die Brillen fort waren, wurde Nathanael ganz ruhig und an Clara denkend sah er wohl ein, daß der entsetzliche Spuk nur aus seinem Innern hervorgegangen, sowie daß Coppola ein höchst ehrlicher Mechanikus und Optikus, keineswegs aber Coppelii verfluchter Doppeltgänger und Revenant sein könne. Zudem hatten alle Gläser, die Coppola nun auf den Tisch gelegt, gar nichts Besonderes, am wenigsten so etwas Gespenstisches wie die Brillen und, um alles wieder gutzumachen, beschloß Nathanael dem Coppola jetzt wirklich etwas abzukaufen. Er ergriff ein kleines sehr sauber gearbeitetes Taschenperspektiv und sah, um es zu prüfen, durch das Fenster. Noch im Leben war ihm kein Glas vorgekommen, das die Gegenstände so rein, scharf und deutlich dicht vor die Augen rückte. Unwillkürlich sah er hinein in Spalanzanis Zimmer; Olimpia saß, wie gewöhnlich, vor dem kleinen Tisch, die Arme darauf gelegt, die Hände gefaltet. - Nun erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. Nathanael lag wie festgezaubert im Fenster, immer fort und fort die himmlisch-schöne Olimpia betrachtend. Ein Räuspern und Scharren weckte ihn, wie aus tiefem Traum. Coppola stand hinter ihm: »Tre Zechini - drei Dukat« - Nathanael hatte den Optikus rein vergessen, rasch zahlte er das Verlangte. »Nick so? - sköne Glas - sköne Glas frug Coppola mit seiner widerwärtigen heisern Stimme und dem hämischen Lächeln. »Ja ja, ja erwiderte Nathanael verdrießlich. »Adieu, lieber Freund!« - Coppola verließ nicht ohne viele seltsame Seitenblicke auf Nathanael, das Zimmer. Er hörte ihn auf der Treppe laut lachen. »Nun ja«, meinte Nathanael, »er lacht mich aus, weil ich ihm das kleine Perspektiv gewiß viel zu teuer bezahlt habe - zu teuer bezahlt - Indem er diese Worte leise sprach, war es, als halle ein tiefer Todesseufzer grauenvoll durch das Zimmer, Nathanaels Atem stockte vor innerer Angst. - Er hatte ja aber selbst so aufgeseufzt, das merkte er wohl. »Clara«, sprach er zu sich selber, »hat wohl recht, daß sie mich für einen abgeschmackten Geisterseher hält; aber närrisch ist es doch - ach wohl mehr, als närrisch, daß mich der dumme Gedanke, ich hätte das Glas dem Coppola zu teuer bezahlt, noch jetzt so sonderbar ängstigt; den Grund davon sehe ich gar nicht ein.« - Jetzt setzte er sich hin, um den Brief an Clara zu enden, aber ein Blick durchs Fenster überzeugte ihn, daß Olimpia noch dasäße und im Augenblick, wie von unwiderstehlicher Gewalt getrieben, sprang er auf, ergriff Coppolas Perspektiv und konnte nicht los von Olimpias verführerischem Anblick, bis ihn Freund und Bruder Siegmund abrief ins Kollegium bei dem Professor Spalanzani. Die Gardine vor dem verhängnisvollen Zimmer war dicht zugezogen, er konnte Olimpia ebensowenig hier, als die beiden folgenden Tage hindurch in ihrem Zimmer, entdecken, unerachtet er kaum das Fenster verließ und fortwährend durch Coppolas Perspektiv hinüberschaute. Am dritten Tage wurden sogar die Fenster verhängt. Ganz verzweifelt und getrieben von Sehnsucht und glühendem Verlangen lief er hinaus vors Tor. Olimpias Gestalt schwebte vor ihm her in den Lüften und trat aus dem Gebüsch, und guckte ihn an mit großen strahlenden Augen, aus dem hellen Bach. Claras Bild war ganz aus seinem Innern gewichen, er dachte nichts, als Olimpia und klagte ganz laut und weinerlich: »Ach du mein hoher herrlicher Liebesstern, bist du mir denn nur aufgegangen, um gleich wieder zu verschwinden, und mich zu lassen in finstrer hoffnungsloser Nacht?

 

 

2. Aufgaben

 

2.1. Fasse die Ereignisse aus dem Textauszug in einer Inhaltsangabe zusammen!

 

In dem Textauszug aus der Erzählung „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann geht es um die Verblendung Nathanaels durch die Linsen, die er von Coppola kauft. Er sieht durch dieses Perspektiv die steife Olimpia mit ganz anderen Augen und verfällt dadurch in eine regelrechte Besessenheit im Bezug auf diese Frau. Dabei spielt in dieser Szenerie besonders die Begegnung mit Nathanaels Kindheitsängsten in der Gestalt des Coppolas, der merkwürdige Parallelen mit dem Sandmann aufweist, eine zentrale Rolle.

 

Nachdem Nathanael aus der heimatlichen Geborgenheit wieder zurück in die Stadt gezogen ist, findet er seine alte Wohnung abgebrannt wieder, aber es gelingt ihm schnell eine neue, geeignete Behausung zu finden. Er wohnt nun dem Professor Spalanzani gegenüber und versucht seinen Studien nachzugehen, ohne an den Sandmann und seinen mysteriösen Doppelgänger Coppola zu denken. Er hat zu Hause eine vermeintliche Ruhe gefunden und glaubt nun von seinen inneren Dämonen geheilt zu sein. Deshalb bemüht er sich sehr nicht in Panik auszubrechen, als der Wetterglashändler Coppola seine Wohnung betritt und ihm etwas verkaufen will.

Jedoch erinnern die Linsen, die er ihm anbietet an die Begegnungen mit dem Sandmann, dem Alchemisten Coppelius, der den Tod seines Vaters auf dem Gewissen hat.

Nathanael beginnt in seine Angst zurückzufallen und ersteht darum schnell ein Perspektiv, um wieder inneren Frieden zu finden.

Sobald der unheimliche Besucher gegangen ist, probiert Nathanael das neue Stück aus und schaut zu Olimpia hinüber, die gegenüber bei Spalanzani wohnt und die er bisher als steif und unattraktiv empfunden hat. Als er jedoch durch die Linse sieht, erblickt er eine wunderbare Schönheit und vergisst dadurch sogar seine Verlobte Klara. Er beginnt die vermeintlich schöne Olimpia zu fixieren und hat sogar Wahnvorstellungen von ihr. Bei einer solchen Illusion endet das Textbeispiel.

Diese Besessenheit wird sich im Laufe der Handlung ausweiten und erst dann enden, wenn er schließlich herausfindet, dass Olimpia eine Puppe ist.

 

 

In dem vorliegenden Textauszug findet sich vor allem deutlich das Motiv der Augen wieder, was in der späteren Interpretation veranschaulicht werden soll. Die Veränderung, die Nathanael durch das Eingreifen von Coppola erfährt, soll den Verdacht der Wetterglashändler könnte der Sandmann sein, bekräftigen. Der Leser soll den geheimnisvollen Charakter als Auslöser für Nathanaels Besessenheit Olimpias gegenüber verantwortlich machen und ihn mit dem schaurigen Motiv der Augen in Verbindung bringen. Weiterhin funktioniert dieser Teil der Erzählung als Wiederaufkeimen des Wahnsinns in Nathanael und es wird mit dem Element der Entgrenzung gespielt. Der Leser weiß also nicht- ist es Wirklichkeit oder Fiktion? Ist Nathanael wahrhaftig verrückt oder ist er vielleicht nur Opfer eines dunklen Komplotts.

 

 

2.2. Schreibe eine Interpretation der Stilmittel und

 

2.3. berücksichtige dabei das Motiv der Augen!

 

In dem Textbeispiel des „Sandmanns“ findet sich überwiegend das Motiv der Augen wieder. Dabei treten häufig Wiederholungen auf, wie in dem Moment, da Nathanael vermutet, dass der Händler Coppola Augen verkauft. Hier wird die Hauptfigur mit dem Kindheitstrauma des Sandmanns konfrontiert und bricht daraufhin in Panik aus. Das zeigt sich vor allem in den Metaphern und Personifikationen wie „Tausend Augen blickten und zuckten krampfhaft“, „sprangen flammende Blicke“, als auch „schossen ihre blutroten Strahlen in Nathanaels Brust“.

Diese Zitate belegen den Wahnsinn der in Nathanael entsteht und zeigen mit bildhafter Sprache, wie er ihm schließlich in dieser Situation anheim fällt. Vor allem fällt während des ganzen Auszuges auf, dass Steigerungen wie „immer mehr“ oder „wilder und wilder“ an den heiklen Stellen an Intensität gewinnen.

Diese wichtigen Punkte sind der Verkauf des Perspektivs, da Nathanael hier in Panik ausbricht, sowie die Stelle bei der Olimpia in einem völlig neuen Licht erscheint. An diesen Situationen häufen sich die Stilmittel, ebenso wie das Augenmotiv, das auch bei Olimpia zu finden ist.

„Nur die Augen erschienen seltsam starr und tot“, „als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf“ sind nur einige Beispiele, die zu nennen wären.

Dabei treten zum größten Teil Vergleiche auf, die die Schönheit Olimpias beschreiben und verherrlichen sollten. Somit wird die aufkeimende Besessenheit Nathanaels ausgedrückt und die Merkwürdigkeit der Veränderung in seiner Meinung verstärkt. Auch hier erscheinen wieder die steigernden Adjektive, die den Rausch Nathanaels darstellen sollen.

Im letzten Teil des Textbeispiels häufen sich die Adjektive und der sprachliche Ausdruck wird bildhafter und typisch romantisch, also weit ausschweifend und mit dem Thema der Entgrenzung versehen. Diese tritt zwar auch bei dem Verkauf der Gläser auf, da Nathanael sie als echte Augen vermutet und es dem Leser erst einmal auch so vorkommt, jedoch veranschaulicht sich dieses Prinzip stärker gegen Ende des Textes, als Nathanael Olimpia vor sich schweben sieht. Selbst hier tritt das Motiv mit den Augen auf, welches mit dem „hellen Bach“ verbunden wird. Es heißt nämlich:„(…)guckte ihn an mit großen strahlenden Augen aus dem hellen Bach.“

Es lässt sich der Widerspruch finden, dass sie erst schwebte, nun aber aus dem Bach ihn ansieht. Man könnte den Bach als klaren Spiegel der Seele, also als Auge interpretieren, welches Nathanael natürlich als schön beschreiben will. Obwohl hier mit Entgrenzung gearbeitet wird, ist schnell klar, dass es sich bei dieser Beschreibung um eine Wahnvorstellung handelt. Um diesen Wahnsinn stärker hervorzuheben werden Alliterationen, wie „Hoher, herrlicher“ benutzt, als auch die Metapher des „Liebessterns“. Zum Kontrast dazu steht das Ende des Textes, welches die Verzweiflung des Protagonisten beschreiben soll: „(…)mich zu lassen in finstrer hoffnungsloser Nacht?“

 

2.4. Wo findet sich innerhalb des Textes das Nachtmotiv wieder?

 

Das Nachtmotiv findet sich im vorliegenden Text in dem Wahnsinn Nathanaels wieder. In diesen Zuständen wird alles verzerrt beschrieben, die Vorgänge scheinen verschwommen. Dabei zeigt sich trotz des vorherrschenden Tages eine dunkle Stimmung, die sich innerhalb Nathanaels Seele befindet und durch die Ich- Erzählung zu Tage gefördert wird.

Gegen Ende des Textes fragt er die Erscheinung von Olimpia, ob sie ihn zurück ließe in der Nacht, wobei die Nacht selbst hier wohl als symbolisch betrachte werden kann, denn auch bei dieser Stelle wird keine genaue Angabe zur Tageszeit gemacht, es könnte ebenso gegen Mittag sein. Also lässt sich daraus schließen, dass die Nacht symbolisch gemeint ist, wie man es auch in Nathanaels Wahnsinn vermuten kann. Die Nacht stellt für Nathanael die Einsamkeit ohne Olimpia dar, vielleicht auch eine Zeit, in der er an den Sandmann denken muss und somit seinen Angstzuständen ausgesetzt ist. Allerdings begeht Nathanael einen Trugschluss, wenn er die Abwesenheit von Olimpia als Nacht interpretiert, denn immerhin ist sie selbst nur eine Wahnvorstellung und auch im realistischen Fall nur eine Puppe. Es lässt sich also abschließend sagen, dass die Nacht symbolisch für den Wahnsinn Nathanaels stehen könnte, aber hier nicht eindeutig definiert werden kann.

 

2.5. Erkläre den Begriff der Entgrenzung bezogen auf den Text!

 

Die so genannte Entgrenzung soll den Zustand zwischen Realität und Fantasie beschreiben und die Grenzen der beiden Zustände so stark verwischen, dass eine Verwirrung des Lesers entsteht und eventuell auch Angst erzeugt wird. Dieses Mittel war in der Spätromanik, vor allem bei E.T.A. Hoffmann, stark verbreitet.

Die Entgrenzung die hier innerhalb des Textes zu finden ist, ist die Wahnvorstellung des Nathanael, die auf den ersten Blick echt erscheint und den Leser in die Irre führen soll.

Dabei nutzt Hoffmann hier die Häufung von Stilmitteln und profitiert durch den gewählten Ich-Erzähler. Somit wird sichergestellt, dass aus der Sicht des Nathanael es schwieriger wird den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahn zu begreifen.