Achim Jung: Mephistopheles – ein „Sprachrohr“ Goethes - Die Wurzeln der Figur des Mephistopheles im naturphilosophischen Denken Goethes



I. Einleitung


Innerhalb der Faust-Forschung spielte Mephistopheles bisher eine meist unter- oder nebengeordnete Rolle, während andere dramatis personae oder Probleme auf breiteres Interesse der Forscher stießen.1) Verantwortlich für diese eigentlich überraschende Gleichgültigkeit gegenüber der schillernden Verkörperung des Bösen war wohl der Umstand, dass "Faust" im Laufe des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts immer euphorischer zum deutschen Nationaldrama erklärt wurde. In dieser "deutschesten Schöpfung unseres deutschesten Dichters"2) musste es selbstverständlich einigermaßen moralisch zugehen. Das "Faustische" wurde in den Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung gerückt, der Teufel dagegen ging im Weihrauch der Literaturkritik unter. So schrieb etwa Rainer Schlösser 1936: "Faust - jenes große urtümliche Bild, in welchem jeder Deutsche sein Wesen und sein Schicksal auf seine Weise wiederahnen kann, jenes Mysterium, das alle Geheimnisse der deutschen nordischen Welt in sich schließt, jener echte und gerechte Mythus, der uns unseren heiligen Rausch ebenso zu vermitteln vermag, wie der letzten Rätsel Lösung."3) Zu diesem Gefühlsüberschwang will der kalte, ganz und gar negative Teufel nicht passen. Doch es ist offensichtlich, dass Goethe ihm innerhalb des Dramas eine große Bedeutung beigemessen hat. Beim Lesen des Textes gewinnt man sogar öfter den Eindruck, als ob Mephisto die Funktion eines Sprachrohrs für das goethesche Denken erfülle. An einigen Stellen erscheint er geradezu als, wie es Mahal formuliert, "Menschheits- und Lebenslehrer"4) im Geiste Goethes. Zum Beispiel, wenn er Faust zu verstehen gibt, dass sein unersättliches Erkenntnisstreben ins Leere geht, da das Ganze der Schöpfung dem Menschen unzugänglich ist:


"Glaub unsereinem: dieses Ganze

Ist nur für einen Gott gemacht!

Er findet sich in einem ewigen Glanze,

Uns hat er in die Finsternis gebracht,

Und euch taugt einzig Tag und Nacht."5)


Das ist ganz im Sinne Goethes gesagt, der zum Beispiel in den "Maximen" schreibt: "Auch einsichtige Menschen bemerken nicht, dass sie dasjenige erklären wollen, was Grunderfahrungen sind, bei denen man sich beruhigen müßte."6) Der Mensch kann nur die einzelnen Erscheinungen erkennen, das Ganze bleibt ihm verschlossen.

Eine weitere Stelle findet sich im ersten Akt von "Faust II", wo Mephistos die Vergnügungssucht des jungen Kaisers, der "die Zeit in Fröhlichkeit"7) vertun will, kommentiert:


"Wie sich Verdienst und Glück verketten,

Das fällt den Toren niemals ein;

Wenn sie den Stein der Weisen hätten,

Der Weise mangelte dem Stein."8)


In den "Maximen" äußert sich Goethe in demselben Tenor: "Wer freudig tut und sich des Getanen freut, ist glücklich."9) Verdienst gewinnt sich nur derjenige, der etwas tut; wer genießt ohne tüchtig zu sein, wie der junge Kaiser, kann nach Goethe, nicht wahrhaft glücklich sein.

Diese Beobachtungen, die noch weiter fortgeführt werden könnten, sollen den Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden. Die Tatsache, dass Goethe Mephisto als Sprachrohr verwendet, legt die Vermutung nahe, dass Mephisto nicht nur eine negative Rolle im Drama spielt. Daher wird nach den Wurzeln des Mephistopheles insbesondere im naturphilosophischen Denkens Goethes zu fragen sein. Dabei wird aufgrund des beschränkten Rahmens der Untersuchung vor allem Faust I zur Interpretation herangezogen werden.






II. Hauptteil


1. Mephisto als Verkörperung des naturphilosophischen Prinzips der Entzweiung



Goethes Prinzip der Welterklärung ist die Metamorphose: Die Natur wirkt nach einem Verfahren, "indem sie die Urform in ständiger Verwandlung immer wieder durchsetzt. (...) Natur und Geist, Welt und Seele sind für ihn 'Dualitäten der Erscheinung als Gegensatz'10), das heißt polare Erscheinungen dessen, was Goethe Leben nennt, das überall nach demselben Formgesetz bildet."11) Auch im Menschen findet sich dieser Gegensatz, jedoch unterscheidet sich der Mensch von den Tieren und allen anderen Erscheinungen dadurch, dass er sich über den in ihm vorfindlichen Gegensatz von Natur und Geist bewusst ist, als sinnlich-körperliches Wesen hat er das Bewusstsein von seiner Bedingtheit, als Geistwesen ist er unbedingt. Goethe nennt diese natürliche Herausbildung von Gegensätzen, die das Fundamentalstreben alles Lebendigen ist, das Gesetz der Polarisation, das er "als Prinzip des Lebens als Bewegung entschlüsselt. Allem Lebendigen nämlich wohnt von Anbeginn eine Spannung inne, das heißt eine Bereitschaft des Einen sich zu entzweien, die sich auf niederer anorganischer Stufe als Trennung in zwei Pole, auf höherer organischer als Scheidung in zwei Geschlechter äußert. Aber immer stellt sich als Drittes zugleich ein Mittleres ein, das bestrebt ist, die beiden Pole wieder zusammenzufügen, sei es in der Weise der magnetischen Anziehung, sei es in der des Sehnens der Geschlechter nach Liebesvereinigung. Und so wie jeder Entzweiung die Vereinigung folgt, so vollzieht sich diese nur, um sich gleich wieder aufzulösen, und so bis ins Unendliche. In dieser Bewegung befördert sich alles Leben.(...) Doch indem sich das Leben auf diese Weise polar bewegt, bewegt es sich nicht immer auf derselben Stufe; Vereinigung ist auch Vereinigung auf höherer Stufe; alles Lebendige, indem es wächst, steigert sich; die Vereinigung der Pole ist zugleich auch Steigerung."12) Eine Vereinigung auf höherer Stufe, eine Steigerung des Lebens ist nur dann möglich, wenn Entzweiung eintritt, wenn der bestehende Zustand negiert wird. Die Negation ist das Prinzip, das eine sich steigernde Reihe von Metamorphosen der Urformen alles Lebendigen vorantreibt. Diese Entwicklung ist allerdings kein Fortschritt im engen Sinn, sondern das Hervorbringen der jeweiligen Urform auf einem immer höheren Niveau. So versteht Goethe das Leben.

Er formuliert dieses Prinzip der Entzweiung und Negation zum Beispiel in der "Farbenlehre": "Treue Beobachter der Natur, wenn sie auch sonst noch so verschieden denken, werden doch darin miteinander übereinkommen, dass alles, was erscheinen, was uns als ein Phänomen begegnen solle, müsse entweder eine ursprüngliche Entzweiung, die einer Vereinigung fähig ist, oder eine ursprüngliche Einheit, die zur Entzweiung gelangen könne, andeuten und sich auf eine solche Weise darstellen. Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, das ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind."13)

Der Mensch nimmt in der Natur eine Sonderstellung ein, weil er sich der Entzweiung in seinem Wesen bewusst ist. Nach Goethes Auffassung sah sich der Mensch vom Anbeginn der Schöpfungsgeschichte mit dem Widerspruch konfrontiert, "zugleich unbedingt und beschränkt zu sein"14). "(...) da dieser Widerspruch durch alle Kategorien des Daseins sich an ihm manifestieren und ein vollkommenes Bewusstsein sowie ein entschiedener Wille seine Zustände begleiten sollte; so war vorauszusehen, dass er zugleich das Vollkommenste und Unvollkommenste, das glücklichste und unglücklichste Geschöpf werden müsse."15)

Die Bedingtheit des Menschen ist, so Dorothea Lohmeyer", eng verknüpft mit den teuflischen Kräften, ohne die der Mensch "nicht in der Welt wirken kann"16). Mephisto ermöglicht als den schöpferischen Kräften der Natur entgegenwirkendes Prinzip "die Autonomie des menschlichen Geistes". Würde der Mensch das Wirken der Natur nur bejahen und nicht verneinen können, könnte er nicht selbst schöpferisch und frei tätig werden, da er ansonsten nicht das Bedürfnis hätte, auf die Natur einzuwirken. Mephisto ist "als Begleiter des zu so 'ungeahnter' 'Großheit'17) fortgeschrittenen Geistes (...) der bedingende Geist, der dessen Wirken mitermöglicht und mitverwirklicht, und gerade an dessen göttliche Qualitäten in dem Maße gebunden, dass der Mensch als geistiges Prinzip in Faust und Mephisto zerlegt scheint.(...) Ist Faust also der Mensch in seiner entelechischen Natur: von seiner göttlichen Seite her als gesetzlich erkennendes und schöpferisches Ich bestimmt, so ist Mephisto das widergöttliche, widernatürliche Prinzip dazu, das menschliche Spezifikum, das in dem Bewusstsein als der 'teuflischen' Bedingung seines Wirkens gründet."18)

Der Mensch ist erst durch die Fähigkeit zur Negation des Bestehenden frei in seinem Handeln, denn sein Bewusstsein, ein autonomes schöpferisches Ich zu sein, gründet sich auf der Verneinung der allumfassenden Göttlichkeit der Natur, aus der der Mensch bewusst heraustritt: "(...) das eigentlich Mephistophelische entspringt aus dem Moment des Heraustretens des mit Bewusstsein ausgestatteten Menschen aus der unbewusst wirkenden Natur; das heißt: aus dem Moment der Selbständigkeit."19) Aber aus dieser Bewusstheit entspringt auch die Erkenntnis der Bedingtheit des eigenen als göttlich erfahrenen Wesens an das Irdische, mithin an das Teuflische, dem Göttlichen Entgegenwirkende.

In diesem Zustand der Bewusstseinsspaltung befindet sich Faust in der "Gelehrtentragödie". Er erkennt seine Bedingtheit und Beschränktheit, deren er sich durch seine Forschungen nur noch stärker inne wird, und doch fühlt er sich als "Ebenbild der Gottheit"20). Sein Wesen ist entzweit:


"Zwei Seelen wohnen, ach in meiner Brust,

Die eine will sich von der andern trennen;

Die eine hält in derber Liebeslust,

Sich an die Welt mit klammernden Organen;

Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust

Zu den Gefilden hoher Ahnen."21)


Fausts Sehnsucht geht dahin, die Dualität zwischen Leben und Geist aufzuheben. Er will sich durch Geister "zu neuem, buntem Leben"22) führen lassen. Die Sphäre der Magie, zu der auch Mephisto gehört, steht symbolisch für die Kraft im Menschen, durch welche er, die ursprüngliche Einheit seines Wesen wiederherzustellen drängt. So kann auch der Pakt zwischen Mephisto und Faust verstanden werden als symbolische Darstellung der Entschließung Fausts, sich der Widersprüchlichkeit seines Wesens zu stellen, um zu einer gesteigerten Stufe des Lebens zu gelangen. "An die Stelle seines übermenschlichen Erkenntnisdranges, der das Ganze der Natur zu fassen wünschte, hat sich sein titanisches Verlangen nach dem Ganzen des Lebens gesetzt: sein 'eigen Selbst' zu 'ihrem', der 'Menschheit', 'Selbst' zu 'erweitern'23)."24) Das heißt, er will nicht mehr wissen, "was die Welt/ im Innersten zusammenhält"25), sondern was er selbst ist. Um zur Einheit und Ganzheit der Menschennatur zu gelangen, muß er seine bisherige Existenz, die vom geistigen Streben beherrscht war, negieren und aufgeben. Die Funktion Mephistos ist, ihm zu zeigen, "was das Leben sei"26) und zwar als Totalität, als die ganze sich steigernde Reihe der Metamorphosen des Menschen, von der "Bestialität"27) der Zechbrüder in "Auerbachs Keller" bis zur Steigerung "in die Ewigkeiten"28) in der Szene "Bergschluchten".





2. Die Bedeutung des mephistophelischen Widerspruchsgeistes in der Schöpfungsordnung



Goethe gestaltet im "Faust" den Widerspruch zwischen 'Realität' und "schönem Schein", zwischen Leben und Kunst. Das "Vorspiel auf dem Theater" versetzt uns in ein enges "Bretterhaus"29), das dann den Engeln als Empore dient für ihren überschwenglichen Lobgesang der Schöpfung. Die Engel, Gott und Mephisto sind Akteure eines explizit als solches gekennzeichneten Rollenspiels. Der Schein, den der "Prolog" beim Zuschauer hervorruft, soll ihm als solcher bewusst sein. Die Fiktionalität des Dargestellten ist durch das Vorspiel ausdrücklich betont. Goethe macht so deutlich, dass im nachfolgenden "Prolog" nicht Personen oder Charaktere, sondern symbolisch verkörperte Prinzipien des Werdenden, "das ewig wirkt und lebt"30), dargestellt sind.

Die Schöpfung erscheint im Gesang der Engel als harmonische Einheit, deren Wesen aber scheinbar Verheerung und Zerstörung ist.31) Dieser unauflösbare Widerspruch zwischen Harmonie und Entzweiung, der die Unergründlichkeit der "unbegreiflich hohen Werke"32) ausmacht, spiegelt sich ab in dem Dialog zwischen Mephisto und Gott. Mephisto verneint jeden Sinn in der Schöpfung. Ihn kümmert nicht die Sphärenharmonie. Er betrachtet nur das Einzelne, den Menschen, in dessen Leben er keinen Sinn sieht, da es von "Jammertagen"33) erfüllt sei. Mephisto negiert nicht das Ganze der Schöpfung, den Makrokosmos, denn auf ihn hat er keinen Einfluß; er beschränkt sich auf den Mikrokosmos, den lebendigen Menschen. Er wird vom Herrn deshalb nicht als Widerpart behandelt, sondern als ihn unterstützende Kraft, die ihren unangefochtenen Platz in der Schöpfungsordnung hat:


"Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht [erschlaffen,

Er liebt sich bald die unbedingte Ruh;

Drum geb' ich ihm gern den Gesellen zu,

Der reizt und wirkt und muß als Teufel [schaffen."34)


Der Herr erwähnt Faust, um Mephistos Widerspruchsgeist gegen diesen irrenden Menschen zu erwecken. Er gebraucht Mephisto, um Faust "in die Klarheit" zu führen. Die Wette zwischen Gott und Mephisto ist ein Symbol für die Weise, nach der die Entwicklung des Menschen durch die Natur befördert wird. Die Bildung des Menschen nimmt ihren Ursprung aus der Negation, die in seiner Natur angelegt ist. Mephisto ist die Inkarnation dieses Prinzips des Negativen, das vom Herrn in Gang gebracht wird: "Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab,/ Und führ ihn, kannst du ihn erfassen, Auf deinem Wege mit herab, (...)."35) Mephisto nennt sich selbst, "Ein Teil von jener Kraft,/Die stets das Böse will und stets das Gute schafft"36) Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, dass diese Kraft dem Menschen innewohnt, Mephisto also nicht eine Person darstellt, sondern die poetische Versinnlichung eines im Menschen wirkenden Prinzips ist.

Das Drama "Faust" ist vielleicht anzusehen als in Symbolen verdichtete und sinnlich gemachte Darstellung der menschlichen Natur, die nach Goethes Auffassung analytisch und in philosophischen Begriffen nicht ergründbar ist. Goethe meint, dass es genügt, die je besonderen Phänomene zur Anschauung zu bringen, damit die in ihnen sich zeigende allgemeine Wahrheit sich offenbare. "Das Allgemeine und das Besondere fallen zusammen: das Besondere ist das Allgemeine, unter verschiedenen Bedingungen erscheinend."37)

Das Faktische, die Erscheinungen erfassen und anschauen ist, nach Goethe, die einzige Weise der Wissenschaft, bei der der Mensch nicht irregehen kann. Über das Faktische der Erfahrungen hinaus läßt sich nichts sagen. So heißt es in den "Maximen und Reflexionen": "Das Höchste wäre: zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Gesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre."38) Die sich offenbarende Wahrheit findet ihren gemäßesten Ausdruck in der Kunst: "Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst."39) Die Kunst ist somit für Goethe zur Darstellung natürlicher Erscheinungen geeigneter als die modernen Naturwissenschaften, da die Voraussetzung jeder Naturerkenntnis, nach Goethe, die Anschauung ist. Somit kann "Faust" als eine im goetheschen Sinne wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur des Menschen interpretiert werden.

Die Bedeutung des Mephistopheles ist demnach nicht diejenige eines Charakters innerhalb des dramatischen Handlungsgefüges, sondern er stellt die symbolische Verkörperung eines allgemeinen naturphilosophischen Prinzips dar. Durch ihn veranschaulicht Goethe eine Grundstruktur des "offenbaren Geheimnisses"40) Mensch.41) Goethe war nämlich der Überzeugung, dass allgemeine Gesetzmäßigkeiten und Ideen in der Erfahrung zugänglich seien und zugänglich gemacht werden könnten. Als Schiller während eines Gesprächs über die Urpflanze sagte, sie sei keine Erfahrung, sondern eine Idee, erwiderte Goethe: "Das kann mir lieb sein, dass ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe!"42)






3. Fausts Pakt und Wette mit Mephisto


Der Pakt mit Mephisto ist nicht ein Bündnis mit dem Bösen und Dämonischen schlechthin, wie es im Volksbuch vorgegeben ist. Faust soll und will eine gesteigerte Stufe des Daseins erreichen. Dieser Drang wohnt ihm von Natur her inne. Die notwendige Steigerung alles Lebendigen vollzieht sich in der Vorstellungswelt Goethes nach dem oben dargestellten Gesetz der Polarisation. Zu dem Entzweiten muß ein Mittleres kommen, das zwischen den Polen, die sich gegenseitig negieren, vermittelt und sie vereinigt. Dieses Vermittelnde kann man mit Hegel auch als Negation der Negation bezeichnen. Mephisto ist das Prinzip, das Fausts Zustand in jeder Stufe seines sich steigernden Lebens negiert und die Kluft zwischen Leben und Geist immer wieder neu aufreißt, gerade indem er Faust in das sinnliche Leben und in die Welt führt.

Mit dem Pakt beginnt Faust ein neues Leben. Für den Verlauf der Handlung ist er von keiner weiteren Bedeutung, da Goethe durch ihn lediglich symbolisch darstellt, dass Fausts zur Steigerung des Lebens bereit ist, indem er sich mit dem sich zu ihm als Gegenpol verhaltenden Mephisto verbindet. Fausts Leben war bisher vom geistigen Pol, dem unbedingten Erkenntnisstreben beherrscht. Nun begibt er sich in den Bannkreis des sinnlichen Lebens, des Ungeistigen. Ist der Pol des Geistigen durch Enge, Konzentration, Ganzheitlichkeit und Dauer bestimmt, so bietet das Leben Weite, Zerstreuung, Buntheit und Wechsel. Die von Faust vorgeschlagene Wette bringt symbolisch zum Ausdruck, dass Faust sich dessen bewusst ist, dass er nie bei einem dieser Pole verweilen kann. Da der Mensch für Goethe eine "geeinte Zwienatur"43) von irdischem Leib und göttlicher Seele darstellt, ist vorherzusehen, dass Mephistos Versuch, Faust ans Irdische zu binden, fehlschlagen muß. Faust wird nie der irdischen Zeitlickeit eines Augenblicks verhaftet bleiben können, weil er als unbedingtes Geistwesen auch das Bewusstsein von göttlicher Ewigkeit hat.44) Während Mephisto auf dem Sinnlichen, Irdischen beharrt und beharren muß, indem er alles Geistige und Sinnstiftende negiert, ist es dem Menschen unmöglich, in dem Pendeln zwischen Leben und Geist innezuhalten.

Mephistos Negativität hält diese Dialektik in Gang und dynamisiert und belebt den Menschen, indem er dessen geistiges Streben, das auf unbedingte Erkenntnis ausgeht, unterdrückt und ihn in die Welt zum Leben, was auch zu neuem Leben heißt, führt. Sein Element ist die Flamme45), die Goethe im "Divan" als "irdische Sonne", als "Abglanz höheren Lichts"46) bezeichnet. Mephisto ist derjenige Teil des Ganzen der Schöpfung, der dem Menschen zugänglich ist. Der Widerspruch und das Böse sind der Abglanz des Wahren, das der Mensch nicht unmittelbar erkennen kann, wie Mephisto feststellt:


"Glaub unsereinem: dieses Ganze

Ist nur für einen Gott gemacht!

Er findet sich in einem ewigen Glanze,

Uns hat er in die Finsternis gebracht,

Und euch taugt einzig Tag und Nacht."47)


Doch bevor Faust zu dieser Weisheit gelangt, muß er noch in der Welt umherirren und Verbrechen und Unglück hervorrufen. In der "Paktszene" will er noch mit seinem "Geist das Höchst' und Tiefste greifen"48). An der oben zitierten Stelle läßt Goethe Mephisto die Erkenntnis aussprechen, zu der Faust erst im ersten Akt des zweiten Teils gelangt: Dort sieht Faust ein, dass er die wirkende Natur nicht unmittelbar erkennen kann, ebenso wie er die Sonne nicht anschauen kann, ohne dass sie ihn blendet: "So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!"49) Er erkennt, indem er einen Regenbogen betrachtet: "Im farbigen Abglanz haben wir das Leben."50) Es ist aufschlußreich, dass Goethe Mephisto diese Erkenntnis vorwegnehmen läßt. Mephisto kann Faust die Wahrheit sagen, kann ihm ankündigen, dass er in die Irre gehen wird. Fausts "Allein ich will!"51) wird dadurch nur umso entschlossener und trotziger. Der Irrtum ist gleichsam die Bedingung der Erkenntnis. Der Mensch muß zuerst irren, bevor er zu einer Erkenntnis gelangt.






4. "Auerbachs Keller" und "Hexenküche"



Unter Zuhilfenahme des oben ausgeführten Prinzips der Polarisation läßt sich eine meines Erachtens tragfähige Hypothese zur inhaltlichen und symbolischen Verklammerung der Szenen "Auerbachs Keller" und "Hexenküche" aufstellen. Mephisto wurde oben bestimmt als die Kraft, die durch Negation zwischen den Polen Natur und Geist vermittelt. Die Negation eines Pols offenbart deutlich den anderen Pol, der durch die Negation affirmiert wird. In "Auerbachs Keller" begegnet Faust das nur sinnliche, 'natürliche' Leben, in Gestalt einer Gesellschaft von Zechern, denen offensichtlich alles Geistige völlig fremd ist. Die Zauberei Mephistos fördert den Charakter dieser Menschen deutlich zu tage als "Bestialität"52). Die Begegnung mit dem Tierischen im Menschen stellt gleichsam den "Nullpunkt" von "Fausts Weltfahrt" dar.53) Die Studenten sinken im Laufe der Szene zu Tieren herab.54) Durch diese Entlarvung tritt das, was den Saufkumpanen in "Auerbachs Keller" vollkommen mangelt, das Geistige, deutlich hervor, insofern die Dialektik den Widerspruch, das Abwesende, notwendig zu Bewusstsein bringt.

Andererseits kann Faust erkennen, was ihm selbst bisher abging, während er grübelnd in seiner Gelehrtenstube gesessen hatte. Mephisto zeigt ihm: "(...) wie leicht sich's leben läßt./ Dem Volk hier wird jeder Tag zum Fest."55) Doch so leicht fällt Faust das Leben nicht. Er hält sich abseits von den Studenten, ist wortkarg und will bald wieder abfahren56).

Bevor Faust zum wahren Leben findet, muß er sich verjüngen. Dies geschieht in der "Hexenküche". Die Verjüngung dient dazu Fausts Mangel an Leben, zu dem die Liebe, die Sexualität und die Gemeinschaft mit anderen Menschen notwendig hinzugehören, auszugleichen. Das geschieht in Form eines Aphrodisiakums, dessen Wirkung emminent ist, denn Faust sieht nun Helena, den Inbegriff der weiblichen Schönheit, in jeder Frau.57) Der Trank symbolisiert den Entschluß Fausts, das Gelehrtenleben hinter sich zu lassen, davon zu "genesen"58), um sich ganz ins Leben zu stürzen. Die erste Station seiner 'Irrfahrt' ist die Liebe zu Gretchen.






5. Mephistos Rolle in der "Gretchentragödie"



Die Deutung der Rolle Mephistos in der Gretchentragödie wird dann fragwürdig, wenn man sie mit hergebrachten moralischen Begriffen zu interpretieren unternimmt, nach denen der Teufel ein Mädchen zur Sünde verführt oder ähnlichem, was von der Tradition der Teufels- und Hexenliteratur vorgegeben ist, aber nicht mit den Intentionen Goethes übereinstimmen kann. Die symbolische Darstellung des durch Irrtümer gekennzeichneten Bildens Fausts, scheint vielmehr eine Suspendierung der Moral nach sich zu ziehen. Wie bereits oben gezeigt wurde, geht es Goethe darum, den Gegensatz zwischen Leben und Geist in Steigerungen symbolisch herauszuarbeiten. In der Gretchenträgödie wird diese KIuft stärker aufgerißen als in der Gelehrtentragödie. Der Versuch einer Vermittlung zwischen den Polen durch die Liebe scheitert, denn nach Goethe ist Entwicklung nur durch Entzweiung möglich. Gretchen ist als symbolische Figur zu betrachten. Sie muß sterben, damit Fausts Bildung nicht zum Stillstand kommt.

Jedoch stellt Gretchen in dem Modell des Prinzips der Polarisation eine Synthese zwischen Leben und Geist auf einer niedrigen Stufe dar. Ihr fehlt aber in der Enge ihrer kleinen Welt das Bewusstsein für ihren Reichtum, den Faust bemerkt:


"Ein Blick von dir, ein Wort mehr unterhält

Als alle Weisheit dieser Welt."59)


Das Eingreifen Mephistos in ihre enge Welt, vernichtet das Idyll. Im Lichte des goetheschen Denkens ist diese Vernichtung jedoch unvermeidlich, denn die übermäßige Reinheit Gretchens, ihr "kindlich dumpfer Sinn"60) und ihre auf äußere Zwänge basierende rigide Moral muß aufgrund des Gesetzes der Polarisation das Gegenteil ihres bisherigen Wesens hervorbringen. Zunächst erscheint sie als Muster der Tugend, am Ende ist sie eine zum Tode verurteilte Doppelmörderin. Sie gibt sich Faust hin, tötet ihre Mutter und ihr Kind und ist schließlich für den Tod Valentins nicht ganz unverantwortlich. Gretchen verkörpert die zwei Pole des Menschen im Bereich des ethischen Handelns: die reine Unschuld und das Verbrecherische, wobei beides zum Menschen gehört und in ihm angelegt ist. Zu einer exzentrischen Ausformung kommt es nur dann, wenn ein Pol im Übermaß betont ist. Wer das 'Böse' in sich leugnet oder zu verdrängen sucht, wird umso sicherer von ihm in seinem Handeln bestimmt.61) Den Teufel, der nur eine imaginierte Verkörperung des im Menschen angelegten Prinzips des Bösen ist, kann man zwar zum Fabelwesen erklären, aber an der Natur des Menschen ändert sich dadurch nichts. Daher stellt Mephisto fest: "Er62) ist schon lang' ins Fabelbuch geschrieben;/Allein die Menschen sind nichts besser dran,/Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben."63) Denn die "Bösen" haben ihren festen und notwendigen Platz in der Welt, da das Böse den Stillstand der menschlichen Entwicklung verhindert.

Faust untergräbt den Frieden Gretchens64), aber er macht sich dadurch nur vor der Gesellschaft, nicht aber im Sinne der Natur schuldig, denn dieser Frieden war gegen die Natur, weil er Gretchen Bildung verhinderte. Von der Gesellschaft, in der irdischen Sphäre Mephistos ist sie, wie er sagt, "gerichtet"65), innerhalb der Schöpfungsordnung, in der jedes Wesen nach Steigerung strebt, aber ist sie "gerettet".66) Nur durch die Vernichtung ihrer engen Welt, ist eine Steigerung ihres Daseins möglich. Daher läßt Goethe Gretchen am Ende von Faust II als Büßerin noch einmal auftreten. Dort erlöst sie Faust, steigert ihn "in die Ewigkeiten"67), indem sie ihn zur Mutter Gottes hinaufführt. Das bedeutet, dass Gretchens Tod für das letztendliche Aufgehen oder Aufsteigen Fausts in die Einheit der Schöpfung notwendig ist. Mephisto wirkt auch hier, indem er vernichtet, Gutes.





6. Die Walpurgisnacht



Die Walpurgisnacht ist die symbolische Darstellung einer erotischen Orgie, in der alle sinnlichen Leidenschaften des Menschen entfesselt sind. Das zeigt ein Blick auf den von Albrecht Schöne rekonstruierten Urtext68), wo das anzügliche Geschehen auf dem Blocksberg noch weniger symbolisch verschleiert ist.

Man kann die Szene interpretieren als symbolische Abspiegelung der erotischen Träume Fausts, die in den Bereich der Geister und Hexen verlegt sind. Sie gibt Fausts inneres Erleben wieder, vielleicht als Gegenpol zu der geordneten, aber auch sterilen Welt Gretchens69), die wegen der gesellschaftlich geächteten Sexualität zugrunde geht. Die Walpurgisnachtszene gipfelt in einem Geschlechtsakt Fausts mit einer jungen Hexe70), den Faust unterbricht, als er eine Vision Gretchens wahrnimmt. Diese Erscheinung symbolisiert Fausts Ahnung von Gretchens Verurteilung. Das vorangegangene freie Ausleben seiner sexuellen Wünsche in der Sphäre der Hexen, ermöglicht durch Mephisto, gibt Faust erst das volle Bewusstsein seiner Schuld. Denn die Welt der Hexen und Geister ist sozusagen eine Gegenwelt und Negation der engen Welt Gretchen. Die Verneinung aller gesellschaftlichen Werte, der Umstoß der Ordnung, der in dem Treiben der Hexen vorgenommen wird, ruft dialektisch in Faust wieder das Bewusstsein von Ordnung hervor. Die Möglichkeit einer verantwortungslosen, 'freien' Sexualität mit der jungen Hexe ist das Gegenbild der heimlichen und gegen äußere Widerstände erzwungenen Liebe Gretchens. Das entfesselte, rein sinnliche Leben erweckt seinen Gegenpol, den nach dem Sinn fragenden Geist, durch den Faust die Bedeutung und Tragweite seines Handelns erkennt.

Stürzte er sich zu Anfang bewusstlos und genußsüchtig in die Menge der lüsternen Hexen71), so steht er am Ende betroffen vor seiner Schuld. Mephisto, der "Geist des Widerspruchs"72), sucht Faust sein Schuldbewusstsein auszureden, verfestigt es aber dadurch umso mehr, bis es sich zu dem leidenschaftlichen Ausbruch in der Szene "Trüber Tag - Feld" steigert.73) Allerdings irrt Faust, indem er sich selbst verantwortlich macht für das Handeln, das, wie oben gezeigt, zu seiner und Gretchens Entwicklung notwendig ist. Mephistos lakonische Bemerkung zu Fausts Anklage des begangenen Unrechts ist, menschlich betrachtet der Ausdruck kalter Gleichgültigkeit: "Sie ist die erste nicht."74) Aber der Teufel kann nicht anders urteilen. Faust, der sich mit Vorsatz dem Teufel verschrieben hat, entsetzt sich nun über dessen Wirken: "Mir wühlt es Mark und Leben durch das Elend dieser Einzigen; du grinsest gelassen über das Schicksal von Tausenden hin!"75) Er vergißt dabei, dass es Mephistos Wesen ist, zu vernichten. Gretchens Schicksal zum Guten wenden kann Mephisto nicht. Er kann sie nicht retten: "Nun sind wir wieder an der Grenze unseres Witzes, da wo euch Menschen der Sinn überschnappt."76) Gretchen ist außerhalb des Machtbereiches Mephistos, daher ist sie gerettet in einem transzendenten Sinn, der Faust verschlossen ist und nach dessen Erkenntnis er strebt. Daher kann auch er Gretchen nicht aus dem Kerker befreien. Sein Befreiungsversuch ist ein Irrtum, der ihn an den Rand eines Abgrundes bringt.

Dieses Erlebnis muß er zu Anfang von Faust II vergessen, um zu weiteren Steigerungen seines Menschseins fortschreiten zu können. Mephisto hat ihn in einen scheinbar nicht wieder gut zu machenden Irrtum getrieben. Aber in der Sichtweise Goethes ist der Irrtum gleichsam Voraussetzung für die Erkenntnis des Wahren: "Der Irrtum verhält sich gegen das Wahre wie der Schlaf zum Wachen. Ich habe bemerkt, dass man aus dem Irren sich wie erquickt wieder zum Wahren hinwende."77) Genauso findet Faust durch das Irren zum Wahren. Erwachend aus dem Schlaf, hat er alles vergessen, doch bleibt ihm die Einsicht, dass das Leben nicht unmittelbar erkannt werden kann, die Natur sich nicht direkt dem Menschen offenbart. Faust wendet sich von der Sonne ab, deren Anblick er nicht ertragen kann und erkennt, dass das Leben nur als "farbiger Abglanz" des Einen zu haben, zu erleben ist, ebenso wie man die Sonne nur durch die Vermittlung ihrer Wirkung, den Regenbogen, anschauen kann.78)









IV. Schluss



Goethe schreibt in den Maximen: "Unsere Zustände schreiben wir bald Gott, bald dem Teufel zu und fehlen ein- wie das anderemal: in uns selbst liegt das Rätsel, die wir Ausgeburt zweier Welten sind."79) Das 'Böse' und das 'Gute' sind für Goethe wie die Seiten eines Blattes; sie sind untrennbar im Menschen miteinander verbunden. Mit dem 'Bösen' geht immer auch ein 'Gutes' einher. Eine Trennung ist nicht möglich, wohl aber eine Unterscheidung des untrennbaren Einen. Diese Unterscheidung nennt Goethe Polarisation und betrachtet sie als sich im Menschen notwendig vollziehendes Naturgesetz der Bewusstwerdung, durch die er seine Doppelnatur von Bedingtheit und Unbedingtheit erfährt. Mephisto ist die Verkörperung des Bedingten, die Kehrseite und der Widerpart des Göttlichen. Goethe macht durch Mephisto dieses Prinzip der menschlichen Natur anschaulich und zeigt wie Irrtum und Erkenntnis, Vernichtung und Tätigkeit, Verneinung und Bejahung immer miteinander einhergehen. Indem Mephisto fortwährend den Sinn alles Handelns negiert, treibt er Faust dazu, sinnstiftend tätig zu sein. Es ist ein langer Irrweg notwendig bis Faust erkennt, dass der Sinn nicht hinter den Erscheinungen zu suchen ist, sondern sich in der Welt durch Tätigkeit offenbart:


"Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;

Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet,

Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!

Er stehe fest und sehe hier sich um;

Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm."80)


Mephistos Tun ist zur Erlangung dieser Einsicht eine unumgängliche Voraussetzung; das negative Prinzip verhindert, dass die Tätigkeit des Menschen erschlafft.81)

Ein moralisches Werturteil über das zerstörerische Wirken Mephistos ist nicht möglich, da ein Naturprinzip nicht ethisch zu bewerten ist. Es hieße sich selbst verurteilen, da jeder nach Goethe eine "Ausgeburt zweier Welten" ist. Ohne die in den Irrtum treibende Kraft des Negativen, die den Menschen zur Kritik und zu schöpferischer Tätigkeit antreibt, wäre Erkenntnis und letztlich auch Menschlichkeit gar nicht möglich. Die menschliche Freiheit gründet sich gerade in der Möglichkeit des Irrtums. In diesem Sinne ist das Fazit Fausts vor seinem Tod zu verstehen:


"Das ist der Weisheit letzter Schluß:

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,

der täglich sie erobern muß."82)


Indem der Irrtum dem Menschen die Freiheit des Handelns gibt, ist er die Grundlage der Menschenwürde. Deshalb stellt das Irren für Goethe eine hervorragende menschliche Eigenschaft dar: "Die Irrtümer des Menschen machen ihn eigentlich liebenswürdig."83), bemerkt er in den "Maximen". So ergibt sich das Paradox, dass das negative Prinzip in gewisser Weise Voraussetzung für die Liebe ist, insofern es den Menschen zur Tätigkeit antreibt und ihn von einem Irrtum in den anderen jagt. Ein Mensch, der nicht irrt, wäre nicht liebenswert, da er eigentlich kein Mensch wäre. Mephisto ist also nicht der dämonische Teufel, als der er oft betrachtet wird, sondern eine letztlich konstruktive Kraft.






V. Literaturverzeichnis



1. Quellen


- Goethes Schriften zur Naturwissenschaft. Hg. i. A. der Leopoldina. Abt. I Texte, Abt. II Ergänzungen und Erläuterungen. Weimar 1947ff.. (LA).

- Hamburger Ausgabe: Goethes Werke. Kom. von Erich Trunz. 14 Bde. München 1982. (HA).



2. Forschungsliteratur


- Arnold Heinz Ludwig(Hg.): Johann Wolfgang von Goethe. München 1982.

- Fuchs, Albert: Mephistopheles. Wesen, Charakterzüge, Intelligenz. Seine geheime Tragödie. Das Problem seiner Rettung. In: Keller, 1974. S. 348-361.

- Keller, Werner (Hg.): Aufsätze zu Goethes "Faust I". Darmstadt 1974 (Wege der Forschung; 145).

- Mahal, Günter: Mephistos Metamorphosen. Fausts Partner als Repräsentant literarischer Teufelsgestaltung. Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik; 71).

- Lohmeyer, Dorothea: Faust und die Welt. Eine Anleitung zum Lesen des Textes. München 1975.

- Requadt, Paul: Goethes "Faust I". Leitmotivik und Architektur. München 1972.

- Requardt, Manfred: Goethe und die 'Anschauende Urteilskraft' oder 'Feinsinn' contra 'Geometrie'. In: Arnold, 1982. S. 240-257.

- Schöne, Albrecht: Walpurgisnacht. In: Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. München 1982. S. 107-230.



1) Vgl. Mahal, 1982. S. 332ff.

2) Kuno Fischer. In: Grützmacher, Richard M: Goethes Faust. ein deutscher Mythus. In: Preuß. Jbb. 34/35. Berlin 1936. (Zit. n. Mahal, 1982. S. 340)

3) Rainer Schlösser. Nach: Grützmacher, 1936. S. 9. Zit. n.: Mahal, 1982. S. 340.

4) Mahal, 1982. S. 378.

5) V. 1780-1783.

6) HA. Bd. 12. Maximen und Reflexionen. S. 437. Nr. 531.

7) V. 5057.

8) V. 5062-5064.

9) Maximen und Reflexionen. S. 518. Nr. 1092. In: HA. Bd. 12.

10) LA I 3, S. 416. Zit. n. Lohmeyer, 1975. S. 16.

11) Lohmeyer, 1975. S. 16.

12) Ebd. S. 17.

13) Zur Farbenlehre. S. 488. §739. In: HA. Bd. 13.

14) Dichtung und Wahrheit. 9.Buch. S.352. In: HA. Bd. 9.

15) Ebd.

16) Lohmeyer, 1975. S. 43.

17) Zitat von Lohmeyer, 1975, S. 36f. aus: LA I 6. Geschichte der Farbenlehre. S. 133: "(...) kaum war die Welt als rund anerkannt und in sich selbst abgeschlossen, so sollte sie auf das ungeheure Vorrecht Verzicht tun, der Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Vielleicht ist noch nie eine größere Forderung an die Menschheit geschehen; denn was ging nicht alles durch diese Anerkennung in Dunst und Rauch auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unschuld, Dichtkunst und Frömmigkeit, das Zeugnis der Sinne, die Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein Wunder, (...) dass man sich auf alle Weise einer solchen Lehre entgegensetzte, die denjenigen, der sie annahm, zu einer unbekannten ja ungeahnten Denkfreiheit und Großheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte. (Kursiv von Lohmeyer) Dazu schreibt D. Lohmeyer weiter: Den aus dieser neugewonnen Denkfreiheit konzipierten, auf sich gestellten Geist der Neuzeit repräsentiert Faust: der Mensch von seinem Spezifikum her als erkennender Geist verstanden, in der Möglichkeit, die Welt von ihrer Gesetzlichkeit her sich anzueignen." (Lohmeyer, 1975, S. 37)

18) Lohmeyer, 1975. S. 43.

19) Lohmeyer, 1975, S.46.

20) V. 516, V. 614.

21) V. 1112-1117.

22) V. 1121.

23) V. 1774.

24) Lohmeyer 1975, S.27.

25) V. 382-383.

26) V. 1543.

27) V. 2297.

28) V. 12064.

29) V. 239.

30) V. 346.

31) V. 259-264.

32) V. 249.

33) V. 297.

34) V. 340-343.

35) V. 324-326.

36) V. 1335-1336.

37) Maximen und Reflexionen. S. 433. Nr. 491. In: HA. Bd. 12.

38) Maximen und Reflexionen. S. 432. Nr. 488. In: HA. Bd. 12.

39) Maximen und Reflexionen. S.467. Nr.720. In: HA. Bd. 12.

40) Maximen und Reflexionen. S. 467. Nr. 720. In: HA. Bd. 12.

41) Diese Tatsache wird in vielen Interpretationen übersehen. Albert Fuchs zum Beispiel nennt als Charakterzug Mephistos "die wilde Grausamkeit" (Fuchs, 1968. In: Keller, 1974. S. 351) und schreibt ihm einen "verbrecherisch eingesetzten Willen" (Ebd. S. 357) zu. Da aber Mephisto kein Mensch ist, auch kein menschlicher Charakter, führt eine solche Interpretation in die Irre. Mephisto kann per definitionem nicht anders als böse handeln. Da er nicht frei in seinem Handeln ist, erscheinen Wertungen der genannten Art für das Verständnis der Intention Goethes hinderlich.

42) Zit. n.: Requardt. In: Arnold, 1982. S. 250.

43) V. 11962.

44) Fausts Wettbedingung an Mephisto lautet:

"Werd' ich zum Augenblicke sagen;

Verweile doch! Du bist so schön!

Dann magst du mich in Fesseln schlagen,

Dann will ich gern zugrunde gehen!" (V. 1699-1703)

Goethe bemerkte 1815 gegenüber Sulpiz Boisserées, auf die Frage nach dem Ende des "Faust": "Faust macht im Anfang dem Teufel eine Bedingung, woraus schon alles folgt." (Sulpiz Boisserées Tagebuch. Wiesbaden, 3. August 1815. Zit. n.: HA. Bd. 3. Faust. Goethe über seinen Faust. S. 423-463. Hier: S. 432. Aus der oben ausgeführten Tatsache, dass der Mensch eine "geeinte Zwienatur" ist folgt der Schluß des Dramas mit Notwendigkeit.

45) V. 1377.

46) Vermächtnis altpersischen Glaubens. In: HA. Bd.2. West-östlicher Divan. S.106.

47) V. 1780-1783.

48) V. 1772.

49) V. 4715.

50) V. 4727.

51) V. 1784.

52) V. 2297.

53) Requadt, 1972, S. 204.

54) Zit. n.: Requadt, 1972, S. 206.

55) V. 2160-2161.

56) V. 2296.

57) V. 2603-2604.

58) V. 2338.

59) V. 3079-3080.

60) V. 3352.

61) Schöne schreibt, "dass Gretchens Verhalten modellgerecht der altkirchlichen Todsündenlehre folgt. Ihre 'superbia' (in der Erscheinungsform der Eitelkeit) zieht die 'avaritia' (Habgier), 'luxuria' (Unkeuschheit) und 'acedia' (in der Erscheinungsform der Verzweiflung) nach sich." (Schöne, 1982, S. 177.)

62) der Teufel

63) V. 2507-2509.

64) V. 3360.

65) V. 4611.

66) V. 4612.

67) V. 12064.

68) Schöne, 1982. S. 217-229.

69) Vgl. V. 3987-3989: "Wir möchten gerne mit in die Höh'.

Wir waschen, und blank sind wir ganz [und gar;

Aber auch auf ewig unfruchtbar."

Vgl. Requadt, 1972. S. 295. Requadt schreibt, es gehe Goethe hier um die "Kritik an der Gegenposition der Reinheit (...). Wer nicht am Bösen teilhat und sich damit auch der Welt verweigert, schließt sich vom Leben aus und bleibt steril."

70) Vgl. Schöne, 1982, S. 227.

71) V. 4114-4115: "dass ich mich nicht selbst vergesse!

Heiß ich mir das doch eine Messe!"

72) V. 4029.

73) S. 137-138.

74) S. 137. Z. 15.

75) S. 138. Z. 1-3.

76) S. 138. Z. 4-6.

77) Maximen und Reflexionen. S. 410. Nr. 334. In: HA. Bd. 9.

78) V. 4715-4727.

79) Maximen und Reflexionen. S. 513. Nr. 1049. In: HA. Bd. 12.

80) V. 11442-11446.

81) V. 340.

82) V. 11574-11576.

83) Maximen und Reflexionen. S. 513. Nr. 1046. In: HA. Bd. 12.