Franz Kafka: Das Urteil



1. Inhaltsangabe:

Der Protagonist der Erzählung Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, sitzt Sonntag vormittags am Schreibtisch und schreibt einen Brief an seinen Freund in Russland. Er berichtet ihm über seine Verlobung, nachdem er diese Nachricht lange Zeit verschwiegen hat, und lädt ihn zur Hochzeit ein.
Anschließend besucht er seinen alten Vater in dessen Kammer, die er schon seit Monaten nicht mehr betreten hat. Er berichtet dem Vater von dem Brief und seiner Einladung an den Freund. Der Vater reagiert unerwarteterweise mit Vorwürfen. Es gelingt Georg, den Vater auszukleiden und ins Bett zu tragen. Kaum ist der Vater jedoch zugedeckt, richtet er sich zu voller Größe auf und behauptet, er stünde schon seit langem mit dem Freund in Russland in Verbindung und habe diesem alles über Georg berichtet. Georgs Verhältnis mit seiner Verlobten Frieda sei ein Verrat an dem Freund, an der toten Mutter und an ihm, dem Vater. Schließlich verurteilt der Vater Georg zum Tod durch Ertrinken.
Georg stürzt aus der Wohnung, läuft über die Straße auf eine Brücke und wirft sich in den Fluss.


2. Textwiedergabe:


Eine Geschichte für F.


Es war an einem Sonntagvormittag im schönsten Frühjahr. Georg

Bendemann, ein junger Kaufmann, saß in seinem Privatzimmer im ersten Stock

eines der niedrigen, leichtgebauten Häuser, die entlang des Flusses in einer

langen Reihe, fast nur in der Höhe und Färbung unterschieden, sich hinzogen.

Er (1) hatte gerade einen Brief an einen sich im Ausland befindlichen

Jugendfreund beendet, verschloss ihn in spielerischer Langsamkeit und sah

dann, den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, aus dem Fenster auf den

Fluss (2), die Brücke (2) und die Anhöhen am anderen Ufer (2) mit ihrem schwachen Grün.

Er (1) dachte darüber nach, wie dieser Freund (3), mit seinem Fortkommen (3) zu

Hause unzufrieden, vor Jahren schon nach Russland sich förmlich (3) geflüchtet (3)

hatte. Nun betrieb er ein Geschäft in Petersburg, das anfangs sich sehr gut

angelassen hatte, seit langem aber schon zu stocken schien, wie der Freund

bei seinen immer seltener werdenden Besuchen klagte. So arbeitete er sich in

der Fremde nutzlos ab, der fremdartige Vollbart verdeckte nur schlecht das

seit den Kinderjahren wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine

sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. Wie er erzahlte, hatte er

keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber

auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und

richtete sich so für ein endgültiges Junggesellentum ein.

Was wollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar

verrannt hatte, den man (1) bedauern, dem man (1)aber nicht helfen konnte. Sollte

man ihm vielleicht raten, wieder nach Hause zu kommen, seine Existenz

hierher zu verlegen, alle die alten freundschaftlichen Beziehungen

wiederaufzunehmen - wofür ja kein Hindernis bestand (4) - und im Übrigen auf die

Hilfe der Freunde zu vertrauen? Das bedeutete aber nichts anderes, als dass

man ihm gleichzeitig, je schonender, desto kranker (5), sagte, dass (6) seine

bisherigen Versuche misslungen seien, dass er endlich von ihnen ablassen

solle, dass er zurückkehren (7) und sich als ein für immer Zurückgekehrter(7) von

allen mit großen Augen anstaunen lassen müsse, dass(6) nur seine Freunde etwas

verstünden und dass er ein altes Kind sei, das den erfolgreichen, zu Hause

gebliebenen Freunden einfach zu folgen habe. Und war es dann noch sicher,

dass alle die Plage, die man ihm antun müsste, einen Zweck hatte?(10) Vielleicht

gelang es nicht einmal, ihn überhaupt nach Hause zu bringen - er sagte ja

selbst, dass er die Verhältnisse in der Heimat(8) nicht mehr verstünde(5) -, und so

bliebe er dann trotz allem in seiner Fremde(7/8), verbittert durch die Ratschläge

und den Freunden noch ein Stück mehr entfremdet(7). Folgte er aber wirklich dem

Rat und wurde hier - natürlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen -

niedergedrückt, fände sich nicht in seinen Freunden und nicht ohne sie(9)

zurecht, litte an Beschämung, hatte jetzt wirklich keine Heimat(8) und keine

Freunde mehr, war es da nicht viel besser für ihn, er blieb in der Fremde(8),

so wie er war?(10) Konnte man denn bei solchen Umständen daran denken, dass er es

hier tatsächlich vorwärtsbringen würde?(10)

Aus diesen Gründen konnte man ihm, wenn man noch überhaupt die

briefliche Verbindung aufrechterhalten wollte, keine eigentlichen

Mitteilungen machen, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten Bekannten(11)

machen wurde. Der Freund war nun schon über drei Jahre nicht in der Heimat

gewesen und erklärte dies sehr notdürftig mit der Unsicherheit der

politischen Verhältnisse in Russland, die demnach also auch die kürzeste

Abwesenheit eines kleinen Geschäftsmannes nicht zuließen, während

hunderttausende Russen ruhig in der Welt herumfuhren. Im Laufe dieser drei

Jahre hatte sich aber gerade für Georg vieles(3) verändert(3). Von dem Todesfall

von Georgs Mutter, der vor etwa zwei Jahren erfolgt war und seit welchem

Georg mit seinem alten Vater in gemeinsamer Wirtschaft lebte, hatte der

Freund wohl noch erfahren und sein Beileid(3) in einem Brief(3) mit einer

Trockenheit ausgedrückt, die ihren Grund nur darin haben konnte, dass die

Trauer über ein solches Ereignis in der Fremde ganz unvorstellbar(12) wird. Nun

hatte aber Georg seit jener Zeit, so wie alles andere, auch sein Geschäft

mit größerer Entschlossenheit angepackt. Vielleicht hatte ihn der Vater bei

Lebzeiten der Mutter(13) dadurch, dass er im Geschäft nur seine Ansicht gelten

lassen wollte, an einer wirklichen eigenen Tätigkeit gehindert, vielleicht

war der Vater seit dem Tode der Mutter(13), trotzdem er noch immer im Geschäft

arbeitete, zurückhaltender geworden, vielleicht spielten - was sogar sehr

wahrscheinlich war - glückliche Zufälle eine weit(3) wichtigere(3) Rolle,

jedenfalls aber hatte sich das Geschäft in diesen zwei Jahren ganz

unerwartet entwickelt, das Personal hatte man verdoppeln müssen, der Umsatz

hatte sich verfünffacht, ein weiterer Fortschritt stand zweifellos bevor.

Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Veränderung. Früher, zum

letzten Mal vielleicht in jenem Beileidsbrief, hatte er Georg zur

Auswanderung nach Russland überreden wollen und sich über die Aussichten

verbreitet, die gerade für Georgs(3) Geschäftszweig(3) in Petersburg bestanden.

Die Ziffern waren verschwindend gegenüber dem Umfang, den Georgs(3) Geschäft(3)

jetzt angenommen hatte. Georg aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von

seinen geschäftlichen Erfolgen zu schreiben, und hätte er es jetzt

nachträglich getan, es hätte wirklich einen merkwürdigen Anschein gehabt.



1 Anapher

2 Akkumulation

3 Alliteration

4 Parenthese/Einschub

5 Paradoxon

6 Aufzählung

7 figura etymologica

8 Gegensatz

9 Zeugma

10 rhetorische Frage

11 Oxymoron

12 Übertreibung

13 Gegensatz


3. Begriffserklärung / Analyse der formalen Gestaltung:

Flusses

Gemeint ist die Moldau, die Kafkas Heimatstadt Prag durchfließt.
Links der Moldau liegt der Stadtteil Kleinseite mit dem Hradschin, dem St.-Veits-Dom, Schloss Belvedere und Nationalgalerie.
Die Karlsbrücke (aus dem 14. Jahrhundert) führt hinüber auf das rechte Moldauufer mit der Prager Alt- und Neustadt.

Petersburg

Petersburg oder Sankt Petersburg wurde Anfang des 18. Jahrhunderts von Peter dem Großen gegründet.
Es wurde zum Kultur- und Wissenschaftszentrum des neuen Russlands; 1712-28 und 1732-1918 war es Hauptstadt des Russischen Reiches.
Nach der Übersiedlung der Sowjet-Regierung nach Moskau (1918) verlor St. Petersburg seine Bedeutung. 1924 wurde der Name in Leningrad geändert, seit 1991 heißt die Stadt wieder St. Petersburg.

dortigen Kolonie seiner Landsleute

Da Peter der Große das Russischen Reich den westeuropäischen Staaten angleichen wollte, wurden in St. Petersburg viele Ausländer, vor allem Deutsche, angesiedelt, um die russische Wirtschaft, Architektur und Wissenschaft nach westlichem Vorbild zu entwickeln.
So entstand eine starke deutsche Kolonie.
1897 betrug der Ausländeranteil in St. Petersburg bei einer Gesamteinwohnerzahl von 1,26 Millionen etwa 20%.

Unsicherheit der politischen Verhältnisse in Russland

In der Zeit zwischen dem verlorenen russisch-japanischen Krieg (1905) und dem Ende des Ersten Weltkriegs (1918) wurde das Russische Reich durch andauernde innere Unruhen erschüttert.
Eckpunkte dieser Unruhen waren die Februarrevolution von 1905 und die russische Revolution von 1917.

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Die kurze Erzählung, „Das Urteil“ enthält zwar keine einzige Begebenheit, die nur annähernd so phantastisch und irreal wäre wie Gregors Verwandlung in ein Ungeziefer. Trotzdem ist der Text insgesamt schwerer zugänglich, voller Widersprüche und Unklarheiten. Obgleich eine Untergliederung vom Autor nicht vorgenommen wurde, lassen sich leicht drei etwa gleich lange Teile erkennen. Eine einleitende Exposition vermittelt dem Leser notwendige Informationen über Gregors Lebensgeschichte, seine jetzige Situation und seine Zukunftspläne. Die anderen Personen werden mittels einer Widergabe der Gedanken, die dem am Schreibtisch sitzenden Georg durch den Kopf gehen, eingeführt und zwar im stark raffenden Erzählerbericht. Für die zweite und dritte Phase des Urteils lässt sich von einer Übereinstimmung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit ausgehen. In der dritten Phase kann man dann von einer Peripetie sprechen, denn dieser Höhepunkt bringt zugleich die entscheidende Wendung, die in der dritten Phase zur Katastrophe, dem Urteil und dessen Vollstreckung führt.

Die Erzählweise in „Das Urteil“ ist auktorial. Doch die erste Phase der Geschichte ist in einem neutralen Erzählbericht gefasst. Außerdem liegt nicht nur eine personale Erzählperspektive, sondern erlebte Rede vor. Im Vergleich zur „Verwandlung“ zeigen Erzählweise und Sprache des „Urteils“ einige besondere Merkmale. So ist z.B. die Topografie der Wohnung nicht ausgeführt; erwähnt wird nur, dass Georgs Zimmer mit dem des Vaters durch einen kleinen Gang verbunden ist. Außerdem spielt sich der größte Teil der Erzählung, die eigentliche Handlung, ausschließlich im Zimmer des Vaters ab und der Sprachstil des „Urteils“ bestätigt in der ersten Erzählphase durchweg die Ergebnisse zu Wortmaterial und Syntax der „Verwandlung“. Durch das Vorherrschen direkter Rede im zweiten und dritten Teil wird er um alltagssprachliche Stillagen erweitert. Zu nennen sind hier die Schimpfworte, Drohungen und „ordinären“ Ausdrücke des Vaters („widerliche Gans“, „Früchtchen“, „Hintern“,...), umgangssprachliche Wendungen („untergekriegt“, „herangemacht“), ebenso auch kurze, einfache und z.T. unvollständige Sätze, so. Ellipsen, aufseiten beider Dialogpartner. Zum Schluss kann noch erwähnt werden, dass der Satzbau hypotaktisch ist ( lange Schachtelsätze) und dass viele Adjektive in der Geschichte vorhanden sind, die alles viel anschaulicher gestalten.


4. Der Vater– Sohn– Konflikt (vgl. Verwandlung):


Parallelen:


Der Vater- Sohn- Konflikt ist als bedingungsloser Machtkampf gestaltet, der verschiedene Entwicklungsphasen durchläuft. So hatte zu Lebzeiten der Mutter der alte Bendemann sein Geschäft sicher im Griff, während der Sohn und Junggeselle Georg sich nicht entfalten konnte (1. Phase). Doch mit dem Tod der Mutter ändern sich die Verhältnisse: Der Vater verliert an Kraft und Einfluss und Georg wird zu einem erfolgreichen Kaufmann, der zudem noch heiraten will (2. Phase). In der 3. Phase kommt es dann schließlich zum Wiedererstarken des Vaters, der mit dem Tod Georgs endet.

So ist der Machtgewinn des Vaters als plötzliche „Wiederauferstehung“ des strafenden Vaters aus der Kindheit gegenüber einem Sohn, der sich zu einem Hilflosen hin zurückentwickelt hat, gestaltet. Auch die Käferperspektive wiederholt sich im Hinaufschauen Georgs zu seinem im Bett stehenden Vater.

Aber auch der Tod des Sohnes ist sowohl in der „Verwandlung“ wie auch im „Urteil“ durch den Vater verursacht (Apfelwurf; Urteil).

Die Beziehung zu Frauen spielen zudem in beiden Fällen eine bedeutende Rolle (Schwester; Verlobte).


Unterschiede:


Der Machtkampf zwischen Vater und Sohn ist phasenverschoben. So befindet sich zu Beginn der Geschichte Georg noch im vollen Besitz seiner Kräfte und Möglichkeiten, vor allem ist er nicht „behindert“, sodass die Ausgangssituation gerechter erscheint. Und auch der Tod der Mutter scheint den frühen Machtverlust des Vaters entscheidend beeinflusst zu haben.

Aber auch beim Tod des Sohnes scheint es bedeutende Unterschiede zu geben. So tötet der Vater den Sohn durch das Todesurteil mit Absicht, aber nur verbal. In der „Verwandlung“ hingegen trägt der Vater durch Gewalt, aber ohne Vorsatz, zum Tod Gregors bei.

Außerdem richtet sich Georg selbst. Sein Tod vollzieht sich als schnelle Vollstreckung und steht somit in einem Kontrast zum langsamen Sterben Gregors.

Auch baut sich Georg eine eigene Existenz auf (ist verlobt) und hat seinen Vater lange Zeit vernachlässigt, ihn also nicht (wie Gregor) umsorgt.

Schließlich ist der Konflikt ganz auf den Vater und Sohn zugespitzt sowie- im Hinblick auf die Deckung von Erzählzeit und erzählter Zeit, den einheitlichen Schauplatz und die gradlinige Handlung- sehr stark in Szene gesetzt.



5. Schuld und Strafe (vgl. Verwandlung):

Schon der Titel der Geschichte verweist auf den Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe, der mit dem Vater- Sohn- Konflikt verbunden ist.


Vergleich mit Gregor Samsa:


Georg Bendemann wird für sein „verfehltes Leben“ bestraft, dessen Versäumnisse ihm der Vater ja deutlich vorhält. Außerdem ist er nicht im üblichen Sinne, jedenfalls nicht alleine verantwortlich für seine Schuld. Deren Ursache reichen weit über eine persönliche Verantwortlichkeit hinaus, verweisen auf die gestörten familiären Verhältnisse und insbesondere auf das „diktatorische“ Rollenverständnis des Vaters. Wie Gregor erleidet er die strengste aller Strafen, den Tod. Sein Sterben ist aber weit weniger qualvoll als das Gregors. Und auch hier wird Georg von seinem Vater vernichtet, wenn dies auch- in beiden Fällen- nicht direkt geschieht. Aber er scheint sein Schicksal voll und ganz zu akzeptieren, obwohl im einen Fall (Verwandlung) kein Schuldspruch vorliegt, im anderen die wilden Anklagen des Vaters keine Möglichkeit zu wirklicher Einsicht und Anerkennung der Schuld lassen (Urteil). Auch sterben beide Söhne in liebenden Gedenken an ihre Eltern, damit auch an ihre Erzeuger.


Was die Vollstreckung betrifft, so kommt das „Urteil“ zu einer radikaleren Lösung als die „Verwandlung“. Aber der Vater will die Rolle des Täters nicht übernehmen und überlässt somit die Ausführung dem Sohn. So trifft jenen keine Schuld.







Hack, Johanna

MSS 13