Das naturphilosophische Prinzip der Entzweiung


Goethes Prinzip der Welterklärung ist die Metamorphose: Die Natur wirkt nach einem Verfahren, "indem sie die Urform in ständiger Verwandlung immer wieder durchsetzt. (...) Natur und Geist, Welt und Seele sind für ihn 'Dualitäten der Erscheinung als Gegensatz'), das heißt polare Erscheinungen dessen, was Goethe Leben nennt, das überall nach demselben Formgesetz bildet.") Auch im Menschen findet sich dieser Gegensatz, jedoch unterscheidet sich der Mensch von den Tieren und allen anderen Erscheinungen dadurch, daß er sich über den in ihm vorfindlichen Gegensatz von Natur und Geist bewusst ist, als sinnlich-körperliches Wesen hat er das Bewusstsein von seiner Bedingtheit, als Geistwesen ist er unbedingt. Goethe nennt diese natürliche Herausbildung von Gegensätzen, die das Fundamentalstreben alles Lebendigen ist, das Gesetz der Polarisation, das er "als Prinzip des Lebens als Bewegung entschlüsselt. Allem Lebendigen nämlich wohnt von Anbeginn eine Spannung inne, das heißt eine Bereitschaft des Einen sich zu entzweien, die sich auf niederer anorganischer Stufe als Trennung in zwei Pole, auf höherer organischer als Scheidung in zwei Geschlechter äußert. Aber immer stellt sich als Drittes zugleich ein Mittleres ein, das bestrebt ist, die beiden Pole wieder zusammenzufügen, sei es in der Weise der magnetischen Anziehung, sei es in der des Sehnens der Geschlechter nach Liebesvereinigung. Und so wie jeder Entzweiung die Vereinigung folgt, so vollzieht sich diese nur, um sich gleich wieder aufzulösen, und so bis ins Unendliche. In dieser Bewegung befördert sich alles Leben.(...) Doch indem sich das Leben auf diese Weise polar bewegt, bewegt es sich nicht immer auf derselben Stufe; Vereinigung ist auch Vereinigung auf höherer Stufe; alles Lebendige, indem es wächst, steigert sich; die Vereinigung der Pole ist zugleich auch Steigerung.") Eine Vereinigung auf höherer Stufe, eine Steigerung des Lebens ist nur dann möglich, wenn Entzweiung eintritt, wenn der bestehende Zustand negiert wird. Die Negation ist das Prinzip, das eine sich steigernde Reihe von Metamorphosen der Urformen alles Lebendigen vorantreibt. Diese Entwicklung ist allerdings kein Fortschritt im engen Sinn, sondern das Hervorbringen der jeweiligen Urform auf einem immer höheren Niveau. So versteht Goethe das Leben.

Er formuliert dieses Prinzip der Entzweiung und Negation zum Beispiel in der "Farbenlehre": "Treue Beobachter der Natur, wenn sie auch sonst noch so verschieden denken, werden doch darin miteinander übereinkommen, daß alles, was erscheinen, was uns als ein Phänomen begegnen solle, müsse entweder eine ursprüngliche Entzweiung, die einer Vereinigung fähig ist, oder eine ursprüngliche Einheit, die zur Entzweiung gelangen könne, andeuten und sich auf eine solche Weise darstellen. Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, das ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind.")

Der Mensch nimmt in der Natur eine Sonderstellung ein, weil er sich der Entzweiung in seinem Wesen bewusst ist. Nach Goethes Auffassung sah sich der Mensch vom Anbeginn der Schöpfungsgeschichte mit dem Widerspruch konfrontiert, "zugleich unbedingt und beschränkt zu sein"). "(...) da dieser Widerspruch durch alle Kategorien des Daseins sich an ihm manifestieren und ein vollkommenes Bewusstsein sowie ein entschiedener Wille seine Zustände begleiten sollte; so war vorauszusehen, daß er zugleich das Vollkommenste und Unvollkommenste, das glücklichste und unglücklichste Geschöpf werden müsse.")

Die Bedingtheit des Menschen ist eng verknüpft mit den teuflischen Kräften, ohne die der Mensch "nicht in der Welt wirken kann"). Mephisto ermöglicht als den schöpferischen Kräften der Natur entgegenwirkendes Prinzip "die Autonomie des menschlichen Geistes". Würde der Mensch das Wirken der Natur nur bejahen und nicht verneinen können, könnte er nicht selbst schöpferisch und frei tätig werden, da er ansonsten nicht das Bedürfnis hätte, auf die Natur einzuwirken. Mephisto ist "als Begleiter des zu so 'ungeahnter' 'Großheit') fortgeschrittenen Geistes (...) der bedingende Geist, der dessen Wirken mitermöglicht und mitverwirklicht, und gerade an dessen göttliche Qualitäten in dem Maße gebunden, daß der Mensch als geistiges Prinzip in Faust und Mephisto zerlegt scheint.(...) Ist Faust also der Mensch in seiner entelechischen Natur: von seiner göttlichen Seite her als gesetzlich erkennendes und schöpferisches Ich bestimmt, so ist Mephisto das widergöttliche, widernatürliche Prinzip dazu, das menschliche Spezifikum, das in dem Bewusstsein als der 'teuflischen' Bedingung seines Wirkens gründet.")

Der Mensch ist erst durch die Fähigkeit zur Negation des Bestehenden frei in seinem Handeln, denn sein Bewusstsein, ein autonomes schöpferisches Ich zu sein, gründet sich auf der Verneinung der allumfassenden Göttlichkeit der Natur, aus der der Mensch bewusst heraustritt: "(...) das eigentlich Mephistophelische entspringt aus dem Moment des Heraustretens des mit Bewusstsein ausgestatteten Menschen aus der unbewusst wirkenden Natur; das heißt: aus dem Moment der Selbständigkeit.") Aber aus dieser Bewusstheit entspringt auch die Erkenntnis der Bedingtheit des eigenen als göttlich erfahrenen Wesens an das Irdische, mithin an das Teuflische, dem Göttlichen Entgegenwirkende.

In diesem Zustand der Bewusstseinsspaltung befindet sich Faust in der "Gelehrtentragödie". Er erkennt seine Bedingtheit und Beschränktheit, deren er sich durch seine Forschungen nur noch stärker inne wird, und doch fühlt er sich als "Ebenbild der Gottheit"). Sein Wesen ist entzweit:


"Zwei Seelen wohnen, ach in meiner Brust,

Die eine will sich von der andern trennen;

Die eine hält in derber Liebeslust,

Sich an die Welt mit klammernden Organen;

Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust

Zu den Gefilden hoher Ahnen.")


Fausts Sehnsucht geht dahin, die Dualität zwischen Leben und Geist aufzuheben. Er will sich durch Geister "zu neuem, buntem Leben") führen lassen. Die Sphäre der Magie, zu der auch Mephisto gehört, steht symbolisch für die Kraft im Menschen, durch welche er, die ursprüngliche Einheit seines Wesen wiederherzustellen drängt. So kann auch der Pakt zwischen Mephisto und Faust verstanden werden als symbolische Darstellung der Entschließung Fausts, sich der Widersprüchlichkeit seines Wesens zu stellen, um zu einer gesteigerten Stufe des Lebens zu gelangen. "An die Stelle seines übermenschlichen Erkenntnisdranges, der das Ganze der Natur zu fassen wünschte, hat sich sein titanisches Verlangen nach dem Ganzen des Lebens gesetzt: sein 'eigen Selbst' zu 'ihrem', der 'Menschheit', 'Selbst' zu 'erweitern').") Das heißt, er will nicht mehr wissen, "was die Welt/ im Innersten zusammenhält"), sondern was er selbst ist. Um zur Einheit und Ganzheit der Menschennatur zu gelangen, muß er seine bisherige Existenz, die vom geistigen Streben beherrscht war, negieren und aufgeben. Die Funktion Mephistos ist, ihm zu zeigen, "was das Leben sei") und zwar als Totalität, als die ganze sich steigernde Reihe der Metamorphosen des Menschen, von der "Bestialität") der Zechbrüder in "Auerbachs Keller" bis zur Steigerung "in die Ewigkeiten") in der Szene "Bergschluchten".