E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann

II. Literarische Erörterung zu: E. T. A. Hoffmann der Sandmann (Melanie Müller, MSS11)
 

Themenstellung: Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Clara und dem Automaten Olimpia?


 

1.Nathanael bezeichnet Clara in einer Auseinandersetzung als „lebloses, verdammtes Automat“. (S. 24) Erkläre diese Aussage unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Nathanael und Clara.

2.Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Clara und dem Automaten Olimpia? Begründe deine Überlegungen durch die Analyse und Interpretation von in diesem Zusammenhang besonders relevanten Textstellen.

3.Stelle eine Beziehung her zwischen Nathanaels romantischer Geisteshaltung und seiner Liebe zu Olimpia.

4.Welche Aspekte der Romantik kritisiert Hoffmann in diesem Zusammenhang?


 

1. Nathanael bezeichnet Clara auf S.24 als "lebloses verdammtes Automat", wogegen er die Puppe Olimpia als "Geliebte" (S.34) mit "himmlischem Liebreiz" (S.32) erwähnt. Grund dafür ist allerdings nicht die Tatsache dieser Aussage, sondern Nathanaels realitätsverzerrtes Weltbild.

Durch die Beschreibung Claras durch den auktorialen Erzähler wird schnell klar, dass sie kein "lebloses verdammtes Automat" (S.24), sondern eine junge Frau ist, mit der "lebenskräftigen Fantasie des heiteren unbefangenen kindischen Kindes, einem tiefen weiblichen Gemüt, einem gar hellen scharf sichtenden Verstand" (S.20). Clara rede viel, was alleine ihr "ironisches Lächeln" (S.20,10) verraten würde. Hoffmann, der durch den auktorialen Erzähler seine Meinung vertritt, vermittelt uns seine Sympathie zu Clara. Er zitiert einen Fantasten, der sich "von Amtswegen auf Schönheit versteht": "können wir denn das Mädchen anschauen, ohne dass aus seinem Blick wunderbare himmlische Klänge entgegenstrahlen, die in unser Innerstes dringen, das alles wach und rege wird?..." (S.19) und gleicht somit die Meinung anderer aus, die Clara "kalt, gefühllos, prosaisch" (S.20) schelten.

Alleine die Tatsache, dass Clara den jungen Dichter als "herzinnigstgeliebten Nathanael" (S.14) bezeichnet, macht deutlich, dass sie die Fähigkeit zu lieben besitzt, was sie von einem Automaten unterscheidet. Clara sorgt sich um Nathanael und bemüht sich aufopferungsvoll um logische Erklärungen für Nathanaels Verfolgungswahn (Brief S. 12-15) zu finden. Nachdem Nathanael ihr ein Gedicht vorliest, indem er seine Ängste vor dem gefürchteten Coppelius verarbeitet, will sie ihn beruhigen ("..wirf das tolle-wahnsinnige-unsinnige Märchen ins Feuer", S.24).

Doch genau diese Tatsache, die große Sorge Claras um den Geliebten sieht Nathanael als negativ an. Er lebt in seinen Gedichten seine Gefühle aus, die ihn seit seiner Kindheit belasten. Mit der Figur des Coppelius verbindet er sämtliche traumatischen Kindheitserlebnisse, Coppelius steht für alle Verbote und Verzicht. Er bekommt die Schuld an dem Tod des Vaters (S.11), die zerstörte Geborgenheit in der Familie und den nicht befriedigten elementaren Bedürfnissen. Als Coppelius nun ein weiteres Mal auftaucht, bangt Nathanael um das was ihm wichtig ist, nämlich Clara.

Clara hindert Nathanael allerdings daran diese Erlebnisse zu verarbeiten. Durch ihr ständiges Eingreifen in Nathanaels Wahnsinn oder das durch Stricken deutlich gemachte Desinteresse an seinen Gedichten, die für ihn sämtliche Ängste und Emotionen darstellen, was Nathanael als zynisch betrachtet, versagt sie ihm die Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse. Dies sieht Nathanael als kalt an, deshalb sieht er Clara als "lebloses verdammtes Automat".


 


 

2. Olimpia wird im Vergleich zu Clara von Nathanael als große Liebe angesehen. Obwohl sie bewiesenermaßen eine leblose Puppe ist, verliebt sich Nathanael vollends in sie. Dem jungen Dichter fehlt die Fähigkeit zu echter Kommunikation. Die Gründe dafür liegen bei Nathanaels traumatischen Kindheitserlebnissen. Er hat nicht gelernt klare Sinneseindrücke von seiner Umwelt zu erfassen, da ihm dies meist verwehrt wurde. Als zum Beispiel die Kinder jeden Abend ins Bett müssen erzählt ihnen die Mutter, der Sandmann käme. Nathanael, der neugierig wird, was sich jeden Abend in seinem Haus abspielt, beginnt sich Illusionen zu machen. Als er dem Geheimnis letztendlich auf die Schliche kommt, quält Coppelius (der Sandmann) ihn und droht ihm mit erneutem Sehverbot, was der Vater gerade noch verhindern kann (S.9).

Nun hat Nathanael Angst, seine Augen zu verlieren. Er steigert sich so immer mehr in seinen Wahn hinein, möchte keine Kritik an seinen Gedichten hören oder logische Erklärungen für den Sandmann suchen. Er sucht in seiner Liebespartnerin eine Projektionsfläche für sein Ich, wozu Clara besser geeignet ist als Olimpia. Diese Auffassung liegt neben Nathanaels Selbstverliebtheit in seiner teleologischen Lebensauffassung. Sein Ziel ist die ideale, absolute Geliebte, die er in Olimpia zu finden glaubt. Sie erfüllt alleine den Zweck Nathanael zuzuhören und ihm nichts entgegen zu setzen. Ohnehin schon entfremdet, entfernt er sich immer mehr.

Auch Clara können teleologische Eigenschaften nachgesagt werden. Sie ordnet sich am Schluss dem Ideal kleinbürgerlicher Existenz unter.

Als Nathanael mit seinen "langweilgen" (S.22) Märchen, die von "dunkler Mystik" (S.22) gespickt sind beginnt, übt Clara häusliche Tätigkeiten, z. B. Stricken aus. Sie hat fast schon keine Kraft mehr dauernd logische Erklärungen für die angebliche "Existenz des Dämons" (S.21) zu suchen, so gibt sie sich als Frau eben der Hausarbeit hin, auch wenn sie die früheren "anmutigen. lebendigen Erzählungen mit innigstem Vergnügen anhörte" (S.22). Statt Nathanael klarzumachen, dass sie seine düstere Mystik langweilt, ordnet sie sich unter und beschäftigt sich auf ihre Art.

Selbst nachdem Nathanael Clara einfach aus seinem Gedächtnis streicht, sich in Olimpia verliebt, diese sogar heiraten will, ist Clara nach seinem Wahnsinnsausbruch im Kampf um Olimpia (S.36) noch immer für ihn da. Sie ignoriert Nathanaels ablehnende Haltung zu ihr und seine Liebe zu Olimpia und nimmt ihn mit den Worten: "Endlich, endlich, o mein herzlieber Nathanael- nun bist du genesen von schwerer Krankheit-nun bist du wieder mein" (S.38) auf.

Dieses Verhalten von Clara zeigt sich schon, als Nathanael sie als "lebloses verdammtes Automat" (S.24) bezeichnet und den Zweikampf mit Lothar provoziert.

Die letztendliche Annäherung an ein automatisiertes Frauenbild zeigt Clara am Ende der Geschichte, als uns der auktoriale Erzähler von der Begegnung mit Clara berichtet, "wie sie mit einem freundlichen mann Hand in Hand vor der Türe ihres Landhauses saß" (S.40). Hier zeigt Clara eine deutliche Unterordnung bzw. teleologische Haltung. Obwohl Clara gar nicht der Typ zum Heiraten ist, genießt sie das "ruhige häusliche Glück" (S.40), was vom auktorialen Erzähler keineswegs als positiv gewertet wird.

Hoffmann benutzt im letzten Abschnitt das Mittel der Ironie, er hat eine negative Einstellung gegenüber der Ehe und wertet hier Claras zweck- und nützlichkeitsorientierte Einordnung in die bürgerliche Gesellschaft ab.


 


 

3.Nathanael ist normalerweise ein begnadeter Dichter, der "anmutige und lebendige Erzählungen" (S.22) schreibt. Er besitzt die Fähigkeit seine Metrik "rein und wohlklingend" hervorzubringen (S.23).

Nathanaels romantische Geisteshaltung und seine Liebe zu Olimpia werden hauptsächlich durch die Abgrenzung von Clara und der aufgeklärten vernünftigen Umwelt deutlich. Nathanaels Romantik beschränkt sich auf wahnsinnige Visionen über den Sandmann. In seinen Gedichten lebt er seine kranken Visionen aus. Indem er seinen Verstand ausschaltet, bringt er sich das Objekt seiner Begierde (Coppelius) näher.

Der auktoriale Erzähler tritt hier selten wertend auf. Anfangs liefert er Briefe, damit der Leser sich selbst ein Bild machen kann, später bedauert er Nathanael.

Durch das ständige Aufarbeiten seiner traumatischen Erlebnisse wird Nathanael zunehmend von sich selbst getäuscht. Immer mehr verliert er sich in Narzissmus und Isolation.

Olimpia bildet zu Nathanaels Haltung die richtige Partnerin. In ihr findet er eine geduldige "Zuhörerin", die ihn "mit großer Andacht anhörte" (S.34). Nathanael liebt Olimpia, weil er in ihr sich selbst findet, er weiß sich von ihr "verstanden", da sie ihm nichts entgegensetzen kann.

Was tatsächlich den Reiz an Olimpia weckte, war das Betrachten der Puppe durch das von Coppola gekaufte Teleskop, was Nathanael die Möglichkeit bot, seinen Voyeurismus zu befriedigen. Dass er in Olimpia nun auch noch eine Partnerin findet, die seine teleologische Vorstellung bestätigt, ist in seinen Augen Glück, andererseits auch der Sturz in sein Verderben, da er nun ohne Gegenworte seinen Wahnsinn immer mehr ausleben kann. Seine Beziehung zwischen Olimpia und der Romantik zeigt Nathanael als er Sigmund entgegnet: "Nur dem poetischen Geüt entfaltet sich das gleich organisierte." (S.33)

Nathanael bezeichnet Olimpias Automatenlaute als "Hieroglyphen" (S.33). Er sieht sie als geheime Zeichen an. In ihnen sieht er einen Zusammenhang der Welt und die Verbindung der beiden. Nathanael sieht Olimpia fast schon als Heilige an: "Ja du mein holder, herrlicher Liebesstern" (S.32f). Nathanaels Dichtung ist zwar formal an die Romantik angelehnt, jedoch dichtet er nur über sich und seine Gefühle, was seine Selbstverliebtheit zeigt. Olimpia, deren Bedürfnisse er nicht befriedigen muss, kommt ihm als Partnerin gerade Recht. Da auf Nathanael keine Rücksicht genommen wurde, braucht er nun auch keine zu nehmen. Er braucht nicht mit ihr zu kommunizieren und kann sich so frei entfalten.


 


 

4. Hoffmann kritisiert in seinem Buch eindeutig einige Aspekte der Romantik, wiederum durch die Figur des auktorialen Erzählers. Indem er den immer stärker werdenden Wahnsinn von Nathanael in Relation zu dem Auftreten des Coppelius in seinen Illusionen zeigt, macht er deutlich, dass in der Romantik oft der Bezug zur Realität fehlt. Nathanael, der ohnehin ein gestörtes Lebensbild entwickelt hat, nutzt die Romantik um die Figur des toten Coppelius in seinen Gedanken zu reproduzieren. Nathanael, der gefangen ist in seinen Bildern und Illusionen, versinkt somit auch in seinen Dichtungen.

Hoffmann kritisiert Nathanaels zu großen Subjektivismus. Nathanale schreibt nur noch Gedichte über sich, um darin alles zu verarbeiten. Außer seinem Trauma spielen keine anderen Personen, wie z. B.Clara oder Olimpia eine Rolle.

Nathanael bildet die Welt nur in seinem Geist (genialisch). Indem er die tote Materie immer wieder in seinen Dichtungen belebt, hat er keine klare Sicht der Dinge mehr. Nathanael entwickelt sich zurück, erlebt sein Kindheitstrauma immer und immer wieder. Er kann nicht damit abschließen, da er die logische Seite ablehnt.


 

Ich denke Hoffmann will die Romantiker aufrütteln, sich nicht zu sehr von der vernünftigen Umwelt abzugrenzen. Er warnt vor fehlender Duplizität (Verbindung subjektiver und objektiver Sichtweise). Nathanael lehnt diese Sichtweise fast schon kategorisch ab. Hoffmann weist in seiner Erzählung die daraus resultierenden Folgen auf und warnt damit Dichter sich zu sehr in ihren Gedichten zu verlieren.