Achim Jung: Erzählanalyse von Gottfried Benns avantgardistischem Prosatext „Gehirne“

 

I. EINLEITUNG

Die Erzählung "Gehirne" erschien 1916 zusammen mit anderen Prosatexten in einem gleichnamigen Band mit dem Untertitel "Novellen". Es ist offensichtlich, dass es sich bei den Texten nicht um Novellen nach der klassischen Definition handelt, die vor allem an dem Zyklus "Decamerone" von Boccaccio ausgebildet worden ist. In der Prosa Benns gibt es weder ein "Falkenmotiv", noch wird eine "unerhörte Begebenheit erzählt. Überhaupt fällt es schwer, deren Inhalt uneingeschränkt als Handlung zu bezeichnen. Benn gebraucht demnach den Begriff „Novellen“ in einem anderen Sinn: Was neu und unerhört in seiner Prosa ist, widerspricht gerade dem Konzept der klassischen Novelle, in der ein außerordentlicher Wirklichkeitsausschnitt realistisch dargestellt werden soll. Meistens geht es darum, dass eine Person sich ein Ziel setzt und deshalb in Konflikt mit der Gesellschaft gerät oder andere Widerstände überwinden muss, um ihre Absicht in die Tat umzusetzen. Bei Benn gibt es dagegen keine zusammenhängende, erzählerisch bewältigbare Wirklichkeit mehr, in der zweckgerichtetes Handeln möglich wäre, weil Rönne sowohl das Zeit- als auch das Raumbewusstsein verloren hat. Mit der Darstellung dieses Verlusts möchte Benn die Täuschung, in der sich die traditionelle Erzählkunst befand, offenlegen , die darin liegt, die Realität derart zu verzerren und zu verfälschen, dass man sie ertragen und erzählerisch darüber verfügen kann. Im wirklichen Leben geschieht nichts nach den Gesetzen, nach denen Kleist, Stifter und Keller ihre Novellen konzipierten. In der Realität gibt es keine Geschichten mit einem eindeutigen Anfang und einem Ende, sondern dies alles ist ordungs- und zusammenhanglos und mitunter rätselhaft. Es gibt keine „objektive“ Wirklichkeit. Indem Benn also seine Prosatexte als "Novellen" bezeichnet, bekundet er damit die Intention, all dasjenige, was vorher in der Literaturgeschichte unter diesem Gattungsbegriff verfasst worden ist, als trügerische Realitätskonstruktionen zu entlarven. Dem entgegen setzt er das Rönnesche "Irrealitätsprinzip. Rönne überwindet das Leiden daran, dass nichts wirklich ist, durch den Rausch, in dem sich das eigentlich Wahre zeigt. Die folgende Inhalts- und Strukturanalyse, die sich an die erzähltheoretischen Arbeiten von Eberhard. Lämmert und Franz K. Stanzel anlehnt, soll zeigen, inwiefern die Bennsche Prosa vom traditionellen Erzählen abweicht und welche Konsequenzen sich daraus für die Interpretation ergeben.

 

 

II. HAUPTTEIL

1. Textwiedergabe

Ein junger Arzt namens Rönne reist im Sommer mit dem Zug zu einer Lungenheilanstalt, in der er den Chefarzt für ein paar Wochen vertreten soll. Vorher arbeitete er an einem pathologischen Institut, wo er vor allem Leichen zu sezieren hatte. Während er durch das Abteilfenster die Landschaft vorbeiziehen sieht, beschließt er, sich ein Buch zu kaufen, um das, was er sieht und erlebt, festzuhalten. Schließlich kommt er in der Klinik an und übernimmt seine neue Stellung. Bei der Behandlung der Patienten überlässt er den Schwestern die meiste Arbeit. Einmal entlässt er einen Kranken, für den keine Aussicht auf. Heilung besteht, was Rönne ihm aber verschweigt. Vielmehr beglückwünscht er den Moribunden zur Genesung, wie es in der Anstalt bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Im Laufe der Zeit vernachlässigt er seine Dienstpflichten immer mehr. Eines Tages beobachtet eine Schwester, wie er mit den Händen eine rätselhafte Gebärde macht, so als ob er eine imaginierte Frucht auseinanderböge. Als in der Klinik ein Tier geschlachtet wird, kommt Rönne zufällig vorbei, nimmt, nachdem man den Kopf zerspalten hat, das Gehirn und biegt die Hälften auseinander. Danach versieht er seine Arbeit nur noch unregelmäßig. Es wird ihm unmöglich, sich mit seinen Mitarbeitern über etwas zu unterhalten. Auch muss er immer häufiger in seinem Zimmer ruhen. Eine Schwester muss ihn bedienen. Oft spricht er mit ihr darüber, dass ihm die Gehirne völlig unverständliche und unfassbare Gebilde seien, obwohl er ihre chemische Zusammensetzung kenne. Weil er verhindern will, dass jemand unvorhergesehen in sein Zimmer kommt, hält er die Tür verschlossen. Zugleich möchte er, dass Krankenwagen vor der Klinik hin- und herfahren sollen, weil ihn das an früher erinnert. Schließlich liegt er ganz und gar apathisch in seinem Zimmer. Nur noch einmal geht er zu den Kranken und betrachtet sie sich, dann kehrt er wieder ins Zimmer zurück. Da Rönne nicht mehr arbeitsfähig ist, muss schließlich der Chefarzt zurückgerufen werden. Bei seiner Ankunft erklärt er Rönne, dass eine seiner Töchter erkrankt sei. Worauf Rönne ihm erwidert, er habe schon unzählige Gehirne in seinen Händen gehalten und wisse doch nicht, worum es sich dabei handele. Auch wisse er nicht, nach welchen Gesetzen die Entwicklung der Gehirne vor sich gehe. Zuletzt fordert er den Chefarzt auf, ihm den Weg freizugeben, da er wieder zu schwingen anfange. Dann folgen nur noch bildhafte, assoziative Splitter, Bilder aus seinem Bewusstsein.

 

 

2. Inhaltsanalyse

2.1. Handlung

Die Handlung ist in der Erzählung etwas Beiläufiges und hat keine strukturierende Funktion. Rönne handelt nicht zweckgerichtet; er setzt sich nicht aktiv mit seiner Umwelt auseinander; er tritt in keinen persönlichen Kontakt mit anderen Menschen und macht auch keine charakterliche Entwicklung durch, indem er sich handelnd bewährte. Insofern kann ihn Benn auch gar nicht als einen Charakter darstellen. Rönne ist der Welt ausgesetzt; sie bedrängt ihn, so dass er sich nach innen zurückzieht. Sehen wir ihn am Anfang der Erzählung noch als Reisenden und als immerhin praktizierenden Arzt, so kommt sein "Handeln" dann selbst im Bereich des Alltäglichen immer mehr zum Stillstand. Wie bei einer Marionette muss er selbst seine Hände nehmen, um etwas zu tun. Die Möglichkeit von Handlung überhaupt steht in Frage, denn die Vorstellung, das Subjekt des eigenen Tuns zu sein, entpuppt sich als Selbsttäuschung: "( ... ) man denkt, man isst, und das Frühstück arbeitet an einem herum.“ Rönne begreift sich als Opfer seines Handelns, da er der Kluft gewahr wird, die sich zwischen seinem Erleben und dem Faktischen auftut. Unter dem Blickwinkel eines Physiologen erscheint das Frühstück nicht als das, was es lebensweltlich bedeutet, sondern als die Verursachung bestimmter chemischer Prozesse im Körper, durch die die Nahrung verarbeitet und verdaut wird. Rönne ist "erschüttert" und „erschöpft" von der Ahnung, dass nichts von dem wirklich ist, was er als äußere Welt wahrnimmt. Selbst sein eigenes Dasein ist ihm zweifelhaft: Während er bereits als Vertreter des Chefarztes in der Klinik ist, glaubt er eines Morgens, dass nun erst der Chefarzt verreisen und ein Vertreter, gemeint ist hier er selbst, kommen werde. Rönnes Trauma besteht darin, ein Geschehenes nicht als etwas Gewordenes hinnehmen zu können, weil er sich ihm hilflos und passiv ausgeliefert fühlt. Auch sprachlich kann er nicht über eine vollzogene Handlung verfügen, weil er sie nicht syntaktisch fassen und ordnen kann, weil in seinen Augen alles ordnungslos und vom Zufall beherrscht ist: "Was solle man denn zu einem Geschehenen sagen? Geschähe es nicht so, geschähe es ein wenig anders. Leer würde die Stelle nicht bleiben. Er aber möchte nur leise vor sich hinsehen und in seinem Zimmer ruhen.“ Rönnes Schlüsselerlebnis, das ihn in diesen passiven Bewusstseinszustand versetzt hat, war das Sezieren der zweitausend Leichen, das am Anfang des Textes in einer aufbauenden Rückwendung äußerst gerafft geschildert wird. Das Paradox, das darin liegt, andere Gehirne mit Hilfe seines eigenen zu verstehen, hat ihn erschöpft und ihm die Fähigkeit genommen zu handeln. Rönne kann nicht als Subjekt einem Objekt handelnd gegenübertreten, weil er ständig mit der existentiellen Frage danach konfrontiert ist, nach welchen Gesetzen sich eigentlich das Bewusstsein eines Gegenstandes herstellt: "Was ist es denn mit den Gehirnen?" Das Gehirn als ordnungsstiftendes Organ, durch dessen Vermittlung der Mensch die Wirklichkeit wahrnimmt, so dass er in der Lage ist, auf Äußeres handelnd zu reagieren, steht Rönne nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung. Es gibt ihm keine Orientierung, wie es sollte, sondern es schwächt ihn "von oben". Er hat "keinen Halt mehr hinter den Augen". An die Stelle der Handlung tritt also das innenweltliche Erleiden von Wirklichkeit, das Rönne durch eine „innere Befreiung“ überwindet.

 

2.2. Person

Von Rönne, der 'Hauptperson' der Erzählung, sagte Benn später, dass er "eine kontinuierliche Psychologie nicht mehr in sich trägt“. Sein Charakter lässt sich nicht einfach darstellen. Für Benn ist das Infragestellen der Person als Träger der Handlung die Frage nach der Realität schlechthin: Was ist wirklich? Was ist das Sein? In dieser Weise fragten schon Parmenides und Platon: "Wo endet der Eindruck und wo beginnt das Unerkennbare, das Sein? Wir sehen, die Frage nach der anthropologischen Substanz liegt unmittelbar hier vor und sie ist identisch mit der Frage nach der Wirklichkeit. Ist dasjenige, was der Mensch wahrnimmt, wirklich das wahrhaft Seiende oder ist ein anderes? Das Rauschhafte, das Ermüdbare das schwer Bewegbare, ist das nicht vielleicht die Realität?" (Benn: Lebensweg eines Intellektuellen, 169). Rönne, dem das unermüdlich in Bewegung seiende scheinbar Wirkliche zweifelhaft geworden ist, konzentriert sich auf die Suche nach dem Unbewegten, dem Ewigen, dem Sein, das er nur in sich selbst finden kann und zwar im Rausch. Weil die Welt als Reservoir von Objekten möglicher Erfahrung für Rönne keine erkennbare Wahrheit und Ordnung enthält, kann sie auch nicht Gegenstand seines Bewusstseins werden. Daher fehlt ihm auch jegliche Erinnerung: "So viele Jahre lebte ich, und alles ist versunken. Als ich anfing, blieb es bei mir? Ich weiß es nicht mehr." Da aber ein Mensch sich als Individuum nur vermittels seiner Erinnerung konstituieren kann, um andererseits aufgrund der vielfältigen Bezüge, in die er während seines Lebens mit der Gesellschaft getreten ist, seinen Platz darin zu erkennen, kann man bei Rönne nicht von einer ausgebildeten Individualität sprechen. Und obwohl er als Arzt integriert ist, isoliert ihn doch sein Bewusstseinszustand von der Gesellschaft. Er ist unfähig, sich mit anderen Menschen zu unterhalten, weil die Gegenstände, über die man reden könnte, ihm so nichtig erscheinen, dass es besser ist, sie zu vergessen. Rönnes Bewusstsein ist also monologisch und selbstzentriert. Daher gibt es auch keine weiteren vollgültigen Personen in der Erzählung. Das Personal der Klinik ist lediglich funktional charakterisiert als "Angestellte" oder "Schwestern". Die Patienten sind sogar reduziert auf das Körperteil, mit dem Rönne.es jeweils zu tun hat: "ein Ohr", "ein verletzter Finger", "etwas mürbes Fleisch" oder "eine Lunge". Nur auf diese Weise kann Rönne die Patienten wahrnehmen, nicht als Bedauernswerte, nicht als Opfer oder Hilfsbedürftige.  Dies wäre nämlich eine Täuschung darüber,  dass der Arzt in Wirklichkeit nur das nicht mehr funktionierende Organ wahrnimmt und nicht den ganzen Menschen. Benn entlarvt hier die ganzheitlich konstruierten Charaktere der traditionellen Erzählliteratur als Vorspiegelungen, die einen Sinn und einen Zusammenhang in der Realität vortäuschen. Ein Mensch aber, der nur noch aus einem durchgelegenen Rücken und "etwas mürbem Fleisch" besteht, kann sich zwar etwas vormachen, indem er die ideologischen Sinnsetzungen der Gesellschaft als wahr postuliert und versucht als "Bürger" normal weiterzuleben, aber der wahren Realität, der "Nacht mit dem Blut im Hals“, dem absoluten Nicht-Sein des Todes, kann er nicht entgehen. Das Leben erfordert solche Selbsttäuschungen, die das Gehirn leistet. Aber die Wahrheit ist trotzdem auch darin enthalten. Deshalb kann Rönne mit Worten nicht lügen, als er einen Moribunden zur erfolgreichen Genesung beglückwünscht. „Was geschehen muss, geschieht unabhängig vom Menschen und was ist,  kümmert sich nicht um seine Denkbewegungen.“ Rönne hatte versucht das allem zugrunde liegende Sein zu erkennen, indem er zweitausend Gehirne sezierte. Und es erschöpfte ihn, dass er, obwohl er sie in Händen hielt und auseinanderbog, nicht hinter ihr Geheimnis kommen konnte. Um den Menschen ist ein Rätsel, über das man nicht sprechen kann: "(...) sie (die Gehirne) lebten in Gesetzen, die nicht von uns seien und ihr Schicksal sei uns so fremd wie das eines Flusses, auf dem wir fahren. ( ... ) um zwölf chemische Einheiten handele es sich, die zusammengetreten wären, nicht auf sein Geheiß, und die sich trennen würden, ohne ihn zu fragen.“ Der Mensch wird bewegt durch etwas, was er nicht erkennen kann. Weil Benn sich dieser Erkenntnisunfähigkeit bewusst ist, kann er keine Personen charakterisieren, so als ob er wüsste, was der Mensch sei.

 

2.3 Ort

In der Erzählung gibt es keine Darstellung des Raumes im Sinne eines vergegenwärtigenden Ausgestaltens, wie es in der Erzählliterarur des 19. Jahrhunderts üblich war. Der Raum ist bei Benn eine Unbestimmtheitsstelle. Dies erklärt sich aus der engen Perspektivierung des Erzählten auf das Bewusstsein Rönnes hin. Der Ort ist nur insoweit und in der Form Gegenstand des Erzählens, als er von Rönne wahrgenommen wird. Bereits in der Einleitungsphase ist es schwer eindeutig auszumachen, wo er sich befindet: dass er in einem Zug sitzt, kann der Leser sich nur aus der Andeutung, er sitze auf einem „Eckplatz“ erschließen. Rönne sieht die Landschaft, die an ihm vorüberzieht, nicht als zusammenhängenden Raum, sondern er selektiert nur einzelnes aus seiner Wahrnehmung, nämlich nur solches, was ihn seinem Bewusstsein auf ein 'Echo' trifft. Er nimmt die Landschaft in sein Bewusstsein hinein, indem er nur das auswählt, das für ihn eine zusätzliche, die reale Erscheinung übersteigende, metaphorische Bedeutung trägt. So deutet etwa das Wort "Weinland" auf Nietzsches Begriff des Dionysischen, auf den Rauschzustand, in den Rönne am Ende der Erzählung verfällt. Durch die "Scharlachfelder", die es normalerweise nur im Mittelmeerbereich gibt, ist das Süd-Motiv angeschlagen, das bei Benn als Symbol der Sehnsucht eine große Rolle spielt. Der „Mohn“ ist ein Sinnbild für das Vergessen; das Blau bedeutet schon seit der Romantik den Traum und das Unaussprechliche; die Rosen schließlich symbolisieren die Trauer, in die Rönne "versunken" ist. Was er also wahrnimmt, ist nicht die reale Landschaft. Sein Sehen ist durch die Dominanz der Selbstwahrnehmung geprägt. Sein Blick geht nach innen, so dass er unter Umständen sogar Dinge sieht, die gar nicht vorhanden sind. Seine Augen können die Realität nicht ordnend erfassen, weil er "keinen Halt mehr an ihnen hat. Es ist ihm" die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken" „Der Raum wogt so endlos; einst floß er doch auf eine Stelle. Zerfallen ist die Rinde, die mich trug." Rönne verfügt nicht mehr über eine Zentralperspektive; die Objekte seiner sinnlichen Wahrnehmung und seines Denkens ordnen sich nicht mehr auf einen Punkt, das Ich, hin, sondern erscheinen ihm als willkürlich hingestreute Atome im endlosen Raum. Rönne durchschaut die Zentralperspektive als List des Menschen, mit der er sich eine geordnete, zusammenhängende Realität vorgaukelt, wo in Wirklichkeit das Chaos herrscht. Weil er dies erkennt, ist er "keinem Ding mehr gegenüber", hat er „keine Macht mehr über den Raum". Das Sezieren der Leichen war ein Versuch, die der Erfahrung des Raumes zugrunde liegendenden Gesetze zu erkennen. Doch das Gehirn blieb für Rönne ein "fremdes Gebilde", da er es nur mit seinem, die Realität vortäuschend,  diese modifizierenden eigenen Gehirn wahrnehmen konnte. Der Urgrund aller Erfahrungstätigkeit kann höchstens dann enträtselt werden, wenn man sich nicht des physischen Organs bedienen müsste, in dem er verborgen liegt. Nur von einem metaphysischen Standpunkt aus wäre also die Erkenntnis des wahren Seins möglich. Da es einen solchen archimedischen Punkt nicht gibt, muss sich Rönne im Rausch von der „Seuche der Erkenntnis“,  mit der er geschlagen ist, befreien. Im Lichte dieses existentiellen Problems ist die Darstellung des Raumes nichtig,  weil darin alles diffus ist. Daher sind Ortswechsel Rönnes in der Erzählung meist nicht zu erkennen. Denn wenn die Realität ganz und gar in Zweifel steht, ist die Position einer erzählten Figur darin gleichgültig. Die Reise zur Klinik wird deshalb auch nicht breit geschildert,  sondern nur stark gerafft in Stichworten angedeutet: "(...) Brücken aus Holz, Brücken aus Stein; eine Stadt und ein Wagen über Berge vor ein Haus“. Rönne kann keinen Zusammenhang zwischen den Dingen herstellen: Er bewegt sich nicht als Reisender, vielmehr wird er bewegt. Er erleidet die Bewegung, denn in seinem Innern findet er keinen Ort mehr, von dem Ruhe ausgeht. Die zunehmende Bewegungslosigkeit Rönnes zeigt seine Sehnsucht nach einem ruhenden Pol, auf den hin er die Außenwelt ordnen könnte. Aber einen solchen Punkt unbewegter Bewegung gibt es auf der Erde nicht. Rönne liegt zwar unbeweglich da, aber er wird sich dessen bewusst, dass er tatsächlich durch den Weltraum, durch das ewige Nichts, rast: "Er lag immer in einer Stellung: steif auf dem Rücken. ( ... ) So trug ihn die Erde leise durch den Äther und ohne Erschüttern an allen Sternen vorbei." Auf die Frage: "Wo bin ich?" antwortet Rönne sich selbst: „Ein kleines Flattern, ein Verwehn." Diese Allusion auf das Buch "Kohelet" in der Bibel weist darauf  hin, dass alle Suche nach Erkenntnis eitel und "ein Haschen nach Wind" ist. Die Welt selbst ist nichts. Auch die Natur, die in der Klassik und der Romantik der Ort war, an dem das Individuum zu sich selber fand, ist Rönne fremd. Er, der Naturwissenschaftler, erfährt und erleidet sie als etwas Gewaltsames, das ihn von außen bedrängt und das er "nicht mehr durch sein Blut" erleben kann. Vielmehr fühlt er sich dem "Schwellen der Gewalten" und der "Hemmungslosigkeit des Lichtes“ ausgesetzt. Die Natur ist für ihn das ganz Fremde, das nicht„ Antwortende; die unmittelbare Konfrontation mit ihr erschöpft ihn. Der Raum kann also für Benn nicht mehr Gegenstand des Erzählens sein, weil darin alles fremd, rätselhaft und ordnungslos ist. Die Wirklichkeit ist etwas Anderes und um dieses wahrhaft Seiende geht es Benn.

 

2.4. Gedankliches

Mit den Methoden der Naturwissenschaft untersuchte Rönne das Gehirn, das Organ, das dem Menschen zur Verfügung steht,  um die Welt zu ordnen und zu erkennen. Die Grundlage für naturwissenschaftliche Erkenntnis ist das Wechselspiel zwischen Theorie und Experiment. Um den Aufbau und die Funktionsweise des Gehirns theoretisch fundiert beschreiben zu können, muss Rönne zuerst einmal eine genügend große Anzahl von Gehirnen seziert haben. Daraus ergeben sich eine Vielzahl von zunächst völlig zusammenhanglosen Fakten, die er dann statistisch auswerten muss. Die so gewonnenen Erkenntnisse sind umso gültiger beziehungsweise wahrscheinlicher, desto umfangreicher das zu ihrer Erstellung verwendete empirische Material ist. Daher sezierte Rönne zweitausend Gehirne. Bei der Auswertung seiner Arbeit hatte er es dann jedoch nicht mit den Gehirnen unmittelbar zu tun, sondern mit einem Dickicht unzusammenhängender mathematisch-statistischer Fakten, Messungen und Werten über das Gehirn, die er paradoxerweise mit seinem eigenen ordnen musste. Solange er das Gehirn selbst in Händen hat, kann er es nicht begreifen. Er kann es zwar auseinanderbiegen und betrachten, aber was es wirklich ist, kann er so nicht erkennen; dasjenige, was er in Händen hält, ebenso wenig wie dasjenige in seinem Kopf. Es tut sich ihm eine Kluft auf zwischen dem Organ, das alles Erkennen ermöglicht, und der Erkenntnis dieses Organs selbst. Der Versuch, sich das Gehirn als Stätte, an der sich das Bewusstsein bildet- und von wo die Lebendigkeit ausgeht, in seinem Wesen bewusst zu machen, misslingt. Rönnes Frage: "Was ist es denn mit den Gehirnen?" muss unbeantwortet bleiben. Der einzige Ausweg aus seinem paradoxen Geisteszustand ist der Rausch, durch den er sich befreien kann. Die Frage nach der Grundlage allen Erkennens und nach dem Sein ist so fundamental, dass die subjektiven Bedingungen der Erkenntnis, Zeit und Raum, in der Erzählung ganz bedeutungslos sind. Als existentiell Fragender kann Rönne die Anschauungen nicht mehr fraglos in ein zeit-räumliches Kontinuum einordnen und kausal miteinander verknüpfen. Er entdeckt, dass die Erkenntnis einer objektiven, realen Welt unter der Einheit der Vernunft unmöglich ist. Über die Wirklichkeit kann er keine Urteile aussagen, weil diese nur durch eine begriffliche Verknüpfung der in der Anschauung gegebenen Erscheinungen zustande kommen können. Die Erkenntnis von Wahrheit ist jedoch nichts anderes als die Verknüpfung von Urteilen. Somit kann Rönne nicht zum 'wahren' Wissen, nach dem die Wissenschaft sucht, gelangen, weil er an dem Prinzip, das der Erkenntnis zugrunde liegt, selbst zweifelt. Er leidet darunter, dass er sich des Urteils enthalten muss, da jede Aussage über die Welt ein Vertuschen ihrer Fragwürdigkeit wäre. Andererseits kann der Mensch sein Bewusstsein nur im Bezug auf Äußeres herstellen. Rönne dagegen kann sich weder auf die Welt, noch auf ein Gegenüber beziehen, noch verfügt er über eine Erinnerung, die ihm analoge Erklärungsmuster für Erfahrungsgegenstände bereitstellte. Er hat keine einheitliche Persönlichkeit, weil er keine individuelle Biographie aufweist. Er hat sein ganzes bisheriges Leben vergessen: "So lange lebte ich und alles ist versunken." So sieht Rönne immer nur die einzelne Erscheinung, die sich ihm beziehungslos darstellt. Ein Regressus auf in seiner Erinnerung vorhandene, der jeweiligen Erscheinung entsprechende Motive, ist ihm nicht möglich. Während die Patienten sich Sinnkonstruktionen mit Hilfe ihrer Erinnerung zusammenbasteln können, sieht sich Rönne unentwegt mit dem absolut Sinn- und Zusammenhanglosen konfrontiert. Da er die kollektiven Sinnsetzungen und Bezüge, wie 'Heimat' oder 'Familie, nicht nachvollziehen kann, weil er in ihnen Täuschung und Ideologie erkennt, ist er ganz auf sich selbst verwiesen: Nur das Individuum kann Sinn in die sinnlose Realität hineintragen und zwar als vates, als Seher.

 

3. Strukturanalyse

 3.1. Modus

Der Modus der Erzählung ist einem Reflektor angenähert, aber der Leser erhält keine direkte Einschau in das Bewusstsein der Reflektorfigur; die Darstellung ist daher zum größten Teil auch nicht szenisch, denn die Raffungsintensität ist über weite Strecken des Textes sehr groß. Es ist meist nicht auszumachen, ob und wie viel Zeit zwischen zwei Erzählphasen ausgelassen wird und wie das Verhältnis zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit jeweils ist. Deshalb erscheint es problematisch, uneingeschränkt von einer Vermittlung durch einen Reflektor zu sprechen. Am Anfang des Textes ist sogar ansatzweise ein Erzähler auszumachen, der jedoch im Fortgang der Erzählung ganz zurücktritt. Er zeigt sich etwa in der vagen zeitlichen und räumlichen Angabe, dass Rönne „im Sommer vorigen Jahres durch Süddeutschland dem Norden zu" gefahren sei. Der größte Teil der Erzählung steht in erlebter Rede, in der der Reflektor den Erzähler ganz zurückdrängt. Die Unbestimmtheit des Modus korrespondiert der Orientierungslosigkeit der Person. Sie ist eine Konsequenz aus der Erkenntnis, dass die „wahre“ Realität nicht in einer Geschichte erzählt werden kann. Weder gibt es einen auktorialen Erzähler, der über die Wirklichkeit verfügen und gültige Aussagen über ein Geschehen machen könnte, noch besitzt Rönne ein einheitliches Bewusstsein, durch das seine Wahrnehmungen und Empfindungen kontinuierlich fließen, so dass sie durch einen Reflektor vermittelbar wären. Ebenso wie Rönne kann auch der Reflektor keinen erfolgreichen Bezug zur Welt herstellen: "Und ich hatte auch einmal zwei Augen, die liefen rückwärts mit ihren Blicken; jawohl, ich war vorhanden: fraglos und gesammelt. Wo bin ich hingekommen? Wo bin ich? Ein kleines Flattern, ein Verwehn“. Der Zweifel der erzählten Figur an ihrer eigenen Existenz überträgt sich auf den Reflektor, der ebenso orientierungslos ist wie Rönne. Daher verschmelzen beide sozusagen in der letzten Erzählphase in einem Ich-Reflektor, der eine neue Orientierung findet.

 

 

3.2. Person

Die Seinsbereiche von Erzähler und Erzählfigur sind weitgehend identisch. Nur selten ist ein Erzähler spürbar, der aber nicht persönlich greifbar ist. Durchgehend erfährt der Leser nicht mehr als die Person wahrnimmt und fühlt. Es ist keine Mittlerfigur vorhanden, die Kommentare oder Erklärungen gäbe, die dem Leser das Verständnis der scheinbar willkürlich aneinandergereihten Erzählphasen erleichterten. Eine Transponierung vom Er-Bezug zum Ich-Bezug ließe sich zwar über einen Großteil des Textes leicht durchführen,  aber dadurch ginge die monologische Struktur der Erzählung verloren. Hier redet kein Ich zu einem Du. Der Er-Bezug zentriert das Erzählte ganz auf die Innenwelt Rönnes. Der monologische Charakter des Textes ist in der Erzählphase am deutlichsten thematisiert, als der Chefarzt Rönne erklärt, seine Tochter sei erkrankt, worauf Rönne erwidert, er habe schon hundert oder tausend Gehirne in seinen Händen gehalten. Die strukturell angelegte Identität der Seinsbereiche von Erzähler und Erzählfigur verhindert, dass der Leser seiner "Vorurteilsstruktur des Verstehens" (Stanzel) folgen kann. Der Text widersetzt sich dem Verstehen, indem an die Stelle eines dialogischen Mitteilens, das durch einen Erzähler gewährleistet wäre, die Zentrierung auf ein individuelles Bewusstsein gesetzt ist.



3.3. Perspektive

Der Standpunkt, von dem aus das Erzählte präsentiert wird, befindet sich innerhalb der Geschichte. Aber selbst dieser "limited point of view" bietet keine kontinuierliche, feste Perspektive, die dem Leser eine Orientierung geben könnte. Der Wissens- und Erfahrungshorizont der Figuren, auf die das Erzählte hin perspektiviert ist, Rönne und eine Schwester, ist so eng begrenzt, dass er dem Leser keinen Anhaltspunkt zu einer raum-zeitlichen Orientierung seiner Wahrnehmungslage bereitstellt. Weil die Zentralperspektive verloren ist, gibt es keinen einheitlichen "point of view" mehr; der Raum fließt nicht mehr "auf eine Stelle" In der Erzählung herrscht ein ständiger Wechsel zwischen konkreten Wahrnehmungen und abstrakten Aussagen, zwischen der Innenperspektive der Person und allgemeinen Feststellungen, die perspektivlos sind: "Erschüttert saß er eines Morgens am Frühstückstisch; er fühlte so tief: der Chefarzt würde verreisen, ein Vertreter würde kommen, in dieser Stunde aus diesem Bette steigen und das Brötchen nehmen: man denkt, man isst, und das Frühstück arbeitet an einem herum.“ Das Erleben fließt nicht zusammenhängend durch Rönnen Bewusstsein hindurch. Es wird kein Bewusstseinsstrom dargestellt, sondern nur das wiedergegeben, was Rönne wahrnimmt. Ein zweimaliger Wechsel der Perspektive von Rönne auf die Schwester ist ebenfalls eine Konsequenz aus dem Verlust der Zentralperspektive. In der letzten Erzählphase löst sich die Perspektivierung schließlich ganz auf. Am Ende steht nur noch ein expressives Ausstoßen von rauschhaften Assoziationen, die die Wirklichkeit transzendieren. Sie sind für Rönne die einzig gültige, alles umgreifende Wirklichkeit. Es gibt keine perspektivische Sicht mehr auf die Realität: Rönne ist ganz bei sich. Was dieses Ich , das alle äußeren Bestimmungen verloren hat, jedoch ist, offenbart sich Rönne am Schluss nicht mehr gedanklich. Er erlebt eine Befreiung vom „Gehirnprinzip“, nun ist er nicht mehr durch das Denken bestimmt, sondern „lebt“.

 

3.4. Erzählprofil

Das Profil der Erzählung ist bestimmt durch das Fehlen mimetisch-dramatischer Darstellung im engeren Sinn. Es gibt keine Dialoge, nur den inneren Monolog Rönnes, der mit erlebter und indirekter Rede abwechselt. Daher eignet sich ach der Gegenbegriff Stanzels „diegetisch-narrativ“ nicht zur Beschreibung des Erzählprofils. Die Dynamik des Erzählvorgangs ergibt sich hier nicht aus dem Verhältnis der narrativen zu den nichtnarrativen Passagen. Und aufgrund der fehlenden zeit-räumlichen Orientierung kann man auch den Wechsel der Raffungsintensität nicht als Maßstab des Erzählprofils heranziehen. Das Profil des Textes ergibt sich eher noch aus dem Wechsel von konkreten Wahrnehmungen und abstrakten, allgemeinen Aussagen, wie zum Beispiel in diesem Abschnitt: "Es war in der Anstalt üblich, die Aussichtslosen unter Verschleierung dieses Tatbestandes in ihre Familien zu entlassen, wegen der Schreibereien und des Schmutzes, den der Tod mit sich bringt. Auf einen solchen trat Rönne zu, besah ihn sich: die künstliche Öffnung auf der Vorderseite, den durchgelegenen Rücken, (…).“ Die Auswahl der erzählten Wirklichkeitsausschnitte ist ganz willkürlich, Die Wirklichkeit ist nicht „diegetisch-narrativ“ oder „mimetisch-szenisch“ zu erfassen. Benn thematisiert die Fragwürdigkeit des Erzählens überhaupt, so dass ein markantes Erzählprofil seiner Intention zuwiderliefe.

 

 


3.5. Vorausdeutungen und Rückwendungen

Die Funktion von Vorausdeutungen ist es üblicherweise, ein Gegengewicht zur Retardation zu bilden. Da es aber in der Erzählung keine Handlung gibt, auf deren Ausgang sie hindeuten könnten, kann es hier im eigentlichen Sinn keine Vorausdeutungen geben. In den Text sind jedoch Symbole eingestreut, die in einem offenbaren Bezug zum Ende der Erzählung stehen und eine ähnliche Funktion wie Vorausdeutungen haben, nämlich den Ausgang verständlich zu machen. Im Rückblick geben sie dein Leser einen Schlüssel für das Verständnis der Textintention. Diese Symbole sind aus dem traditionellen Kanon entnommen, so dass der mit einer gewissen Bildung befrachtete Leser sie leicht verstehen kann. Die Symbole sind Worte wie "Mohn", „Blau" und "Rosen". Für Rönne bewahren sie das wahrhaft Seiende gegenüber der sinnlosen Wirklichkeit. Mit Worten kann er nicht lügen, denn Sie enthalten immer die Wahrheit: "Aber wenn ich mit Worten 1ügen könnte, wäre ich wohl nicht hier“, denkt Rönne, nachdem er einem Todgeweihten zur erfolgreichen Genesung gratuliert hat. Weil es in der Klinik so üblich ist, die Todeskandidaten mit dem Gruß "Glück auf!" zu verabschieden, bedeutet er in Wahrheit genau das Gegenteil von dem, was ausgesagt ist. Das Wort birgt also immer die Wahrheit in sich. Während Rönne an dieser Stelle noch an dieser Erkenntnis leidet, kehrt er sie am Ende um, indem er mit Worten die Wirklichkeit durchbricht und in sich selbst das wahre Sein findet. Dieser Rausch wird in den 'Vorausdeutungen' vorweggenommen: Gleich zu Anfang steht das Wort "Weinland" als Sinnbild für den Rausch und das Dionysische; die "Scharlachfelder" verweisen auf das Süd-Motiv, das Motiv der Sehnsucht; der Mohn steht für das Vergessen, das "Blau" für den Traum und die "Rosen" bedeuten die Trauer, in die Rönne "versunken" ist. Rönne sehnt sich danach, träumend alles, was er bisher für die Realität gehalten hat, zu vergessen, um das Sein zu schauen. Dazu muss sich sein Auge "enthirnen", wie es in dem Gedicht „Ikarus“ von 1915 heißt; er muss sich vom Gehirn befreien, um "aufblühen" zu können, so wie die Rosen "süß geköpft „ blühen: Nachfolgende Knospen an Rosensträuchern können besser erblühen, wenn die vorherigen Blüten zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschnitten werden. Auch in der Erzählung spielt das Ikarus-Motiv eine Rolle: An Rönne ist "etwas Steifes und Wächsernes (...) lang wie abgenommen von den Leibern, die sein Umgang gewesen waren“. Im Widerspruch zur Sage jedoch verleiht das Wachs Rönne nicht die Fähigkeit zu fliegen, sondern es lähmt und erschöpft ihn. Das Wachs symbolisiert die Erinnerung an die Toten, die Rönne erst vergessen muss, um zu einem lebendigen Menschen werden zu können. Die Wissenschaft verleiht also dem Menschen keine neuen Fähigkeiten, sondern sie ‚tötet’ das Leben, wie sie ja auch dem Ikarus zum Verderben wurde. Der Sturz, das Versagen der wissenschaftlich-technischen Vernunft, wird bei Benn zur Metapher der Befreiung: „in Mittagssturz des Lichts “ in Anspielung auf den „großen Mittag“ Nietzsches: „Aber denen allen kommt nun der Tag, die Wandlung, das Richtschwert, der große Mittag: da soll vieles offenbar werden!“ („Also sprach Zarathustra“)

Im "Traum" und in "Gesängen", das heißt im Rausch und in der Dichtung. ist das Menschliche bewahrt. Das Ende der Erzählung ist deshalb so euphorisch, weil hier ein Mensch vom Dunkel ins Licht, vom Nicht-Wissen zum Wissen kommt: Der "Trug der Farben" schmilzt." Die kotbedrängten Höhlen" („Ikarus“) schwingen "in Rauschen gebäumter Sonnen" (Ikarus) Rönne fällt wie Ikarus, aber er wird nicht zerschmettert; er fällt sozusagen nach innen und findet dort das 'wahre Leben', nachdem er sich von der "Seuche der Erkenntnis befreit hat, von der zwanghaften Anstrengung des Gehirns, sich eine zusammenhängende Realität zu konstruieren und vorzuspiegeln. Als 'Rückwendungen’ kann man alle die Stellen bezeichnen, an denen die Hände Rönnes erwähnt sind, durch die, wie es am Anfang in der 'aufbauenden Rückwendung' heißt, zweitausend Leichen beziehungsweise Gehirne, gegangen sind. An diese Tatsache wird der Leser so ständig erinnert. Mit den Händen biegt Rönne die Hirnhälften des Tieres auseinander, mit ihnen beschäftigt er sich, nachdem er sich umsonst bemüht hat, das Geheimnis des Gehirns zu enträtseln. Die "fremden Gebilde“, die seine Hände gehalten haben, entziehen sich ihm. Die Wissenschaft kann die Gesetze, in denen sie „leben, nicht offenlegen. Über das wahre Sein kann der Mensch nicht sprechen. Höchstens im Traum und im Rausch zeigt sich ihm das, was wahrhaft ist: "Manchmal eine Stunde, da bist du, der Rest ist das Geschehen, manchmal die beiden Welten schlagen hoch zu einem Traum“, sagt Rönne. Welche beiden Welten also? Das Ich und die Natur. Was ergeben sie? Im Höchstfall einen Traum. Das ist natürlich ein Irrealitätsprinzip, das Rönnesche Prinzip. Das bedeutet, nichts ist wirklich, außer dem Ich, das im Rausch träumend zu sich selbst findet.

 

 III.            SCHLUSS

Der Mensch in der Moderne ist nach Benn mit der "Seuche der Erkenntnis“ geschlagen. Das "Gehirn-Prinzip" zwingt ihn, die Welt bis ins letzte zu erklären und zu erforschen. Als die Erzählung "Gehirne" 1914 entstand, geriet gerade der damals verbreitete Wissenschaftspositivismus ins Wanken,  etwa durch die Entdeckungen von Max Planck und Albert Einstein. Vorher hatte man noch geglaubt, die Natur vollständig erkennen und ihre Gesetze objektiv formulieren zu können. Der Wissenschaftsoptimismus war ungeheuer populär, so dass zum Beispiel das Buch eines seiner Verfechter, Ernst Haeckels "Die Welträtsel", dreihundert Auflagen erlebte. Die Erkenntnis, dass es in der Welt Geheimnisse gibt, die sich nicht enträtseln lassen und über die man keine gültigen Aussagen machen kann, war dann ein großer Schock. Durch Einsteins Relativitätstheorie wurden selbst die Vorstellungen von Raum und Zeit erschüttert. Nachdem das christliche Weltbild als zentrale Weltanschauung schon lange suspendiert war, sahen sich die Intellektuellen plötzlich scheinbar vor dem „Nichts“ und wurden zu „Nihilisten. Auch Benn erkannte, dass die Naturwissenschaft keine letztgültigen Aussagen über den Sinn des Daseins und der Welt machen kann: In dem Kristallgitter zum Beispiel, mit dem man damals die Materie erklärte, ist kein tieferer Sinn zu finden. Die Materie ist ganz einfach, ob das Kristallgitter sie korrekt veranschaulicht oder nicht. Das ebenso Sinn- wie Geheimnisvolle an der Welt ist einfach, dass sie ist. Ebenso verhält es sich mit dem Menschen und seinem Gehirn. In allem ist das Sein enthalten. Es ist etwas ganz Alltägliches: das Leben. Rönne fragt danach, was dieses Rätsel, das Wunder des Daseins, ist, das seinen Sitz offenbar auch im Gehirn hat. In der Materie zeigte es sich nicht: Rönnes Sezieren war umsonst: "Nun halte ich immer mein eigenes in meinen Händen und muss danach forschen, was mit mir möglich sei. Wenn die Geburtszange hier ein bisschen tiefer in die Schläfe gedrückt hätte...? Wenn man mich immer über eine bestimmte Stelle des Kopfes geschlagen hätte...? Was ist es denn mit den Gehirnen?“ Rönne leidet daran, dem Zufall ausgeliefert zu sein, solange er nicht sagen kann, nach welchen Gesetzen das Sein sich im Gehirn manifestiert. Metaphysische Aussagen kann er keine machen, weil er nicht an Gott oder ein höheres Wesen glaubt, denn ansonsten müsste er nicht so existentiell fragen. Gott ist für ihn auch nur ein Konstrukt nach dem 'Gehirn-Prinzip'. Und diese "Rinde", die ihn trug, ist "zerfallen". Rönne bleibt nur ein Ausweg: Das Fragen und Forschen sein zu lassen und zu "schwingen", das heißt zu leben. Die Metaphern, mit denen der Text endet, wollen dieses Leben nicht begrifflich als Erkanntes fassen. Sie bezeichnen nur Rönnes Gang vom Reden zum Schweigen. Das dichterische Wort des vates redet am Rande des Schweigens entlang und erst das Schweigen ist die einzig adäquate und konsequente Haltung des Menschen gegenüber dem Sein: „(...) auf Flügeln geht dieser Gang mit meinem blauen Anemonenschwert - in Mittagssturz des Lichts in Trümmern des Südens - in zerfallendem Gewölk - Zerstäubungen der Stirne - Entschweifungen der Schläfe."