Daniel Kehlmann: „Ruhm“ - „Osten“

Eine Entwicklungsanalyse am Beispiel Maria Rubinstein

 

Die Geschichte „Osten“ aus Daniel Kehlmanns Roman „Ruhm“, erschienen 2010, handelt von der Kriminalautorin Maria Rubinstein , die  ihrem Kollegen Leo Richter zusagt, dass sie ihn für eine Pressereise nach Zentralasien vertritt. Als sie dort mit einigen anderen Reisejournalisten ankommt, erwartet sie jedoch  eher  Tristesse  als die erwartete Schönheit der Gegend und Exotik. Als es zur Heimreise kommen soll, wird sie durch eine Verkettung eigenartiger Zufälle von der Reisegruppe vergessen und verliert sich ohne Geld, Handy und Sprachkenntnisse im fremden Land. Kehlmann stellt insbesondere die Bedeutung der Medien dar, die eine Parallelwirklichkeit schaffen und Menschen, die an der Realität verzweifeln.

Betrachtet man die Entwicklung der Protagonistin, fällt zunächst auf, dass sie zu Beginn der Reise eine große Neugierde zeigt und gespannt ist auf das, was sie erwarten wird (S.96/Z.2).Ihre Vorstellungen davon sind überwiegend romantisch und naiv geprägt (Lagerfeuer, Sternenhimmel (S.95/Z.5)). Mit der Realität wird sie dann gleich nach ihrer Ankunft konfrontiert (Benzingeruch (S.95/Z.6)), die ihren Vorstellungen, die einer Utopie entsprechen, zunächst den ersten Dämpfer verpasst. Hinzu kommt, dass ihr die Hitze nicht gut bekommt („Ihre Haare waren jetzt schon schweißverklebt (…)“, „(…)eine kleine, rundliche Frau Mitte vierzig, die sehr erschöpft aussah.“ (S.96/Z.14)) und sie fragt sich, ob es wirklich sinnvoll war, die Reise anzutreten, da sie an der Seite ihres Mannes ein sehr erfolgreiches, entspanntes Leben führt (S.96/Z.24f.). Eine weitere Schwierigkeit stellt die fremde Sprache dar; ihr schmuddelig wirkender Fahrer, der sie vom Flughafen abholt, spricht sie an, sie kann ihn jedoch nicht verstehen. Zunächst versucht sie die Situation höflich zu überspielen, sie ist aber stark verunsichert und wirkt verkrampft und eingeschüchtert, als sie merkt, dass ihr Fahrer auch auf ihr Gestikulieren nur gereizt reagiert (S.97/Z.22f.). Dies ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Marias Bild einer perfekten Realität zu bröckeln beginnt, sie aber noch versucht, es vor sich zu verbergen. In der ersten Nacht im Hotel schläft sie schlecht und klagt über Kopfschmerzen (S.100/Z.8), woraufhin sie ihrem Mann eine SMS schickt, in der sie ihm mitteilt, dass sie ihn vermisse (S.100/Z.12). Die Sehnsucht nach der Heimat und auch der Umstand ODER die Tatsache, dass sie sich „sehr weit weg von allem fühle“ (S.100/Z.13) zeigt, wie sehr sie die neue Umgebung bedrückt und belastet. Verstärkt wird ihr Heimweh dadurch, dass sie ein langweiliges, tristes Programm absolvieren muss, das erneut  nicht ihren hohen Erwartungen gerecht wird (S. 102./Z.15). Auch das Telefonat mit  ihrem Mann am Abend spiegelt ihr Unwohlsein wider; ihre Antworten sind kurz  und wehleidig („Ach je. Wenn du wüsstest.“ (S.102./Z.22)). Um den Akku zu schonen, weil sie ihr Ladegerät vergessen hat, beendet sie das Gespräch rasch, denn der Gedanke, vollkommen abgeschieden zu sein, löst Angst in ihr aus (S.103./Z.8). Angesichts dieser Szene erkennt man die Bedeutung ihres Mobiltelefons, dass die einzige Verbindung zu ihrem alten Leben darstellt, in dem Vertrauen und Geborgenheit vorherrschten; dort liebt sie ihr Mann (S.96/Z.24), sie erhält Zuspruch von Fans (S.96/Z.23) und hat Erfolg - ein Leben, in dem sie die Kontrolle über dessen Lauf hat. Indem sie sich bei ihrem Mann meldet, flüchtet sie zurück in ihr altes Leben, in eine verlorene Parallelwirklichkeit, die fernab von ihr noch existiert. Mit dem Anruf kann sie neben ihrem jetzigen Leben, welches sich in Zentralasien abspielt, ein zusätzlicheskurz mit einem vergangenen Leben Kontakt aufnehmen führen- das Leben, das sie in ihrer Heimat hatte. Das Bewusstwerden deriese Existenz von einer parallelen Wirklichkeiten im Erzählablauf , in die Maria sich rettet, bezeichnet man als Metafiktion; sie ermöglicht die Darstellung von dieser nebeneinander bestehenden
Wirklichkeiten, deren Fiktionalität dem Leser immer bewusst bleibt.

Die Abhängigkeit davon wird klar,Die Verbindung zu Marias ruhmreichen Leben als Schriftsteller schwindet mit der unwiederruflichen Entladung des Handyakkus, dagegen wächst  als Marias‘ Verzweiflung. g konstant mit der Abnahme des Handyakkus steigt  Letztlich ist die Protagonistin für den Leser eine Verschollene, die aus einer anderen Kurzgeschichte kommtund s. Als der Akku leer und sie bei den alten Bauern gestrandet ist, ist es offenbar sie selbst, die in erlebter Rede ihre Geschichte zu Ende erzählt. ie letztlich völlig als verschollen gilt,

als dieser leer ist (S.114/Z.4). Als der Tag der Abreise naht, wird Maria kurzfristig in ein anderes Hotel geschickt, da das, in dem sie wohnte, überfüllt sei (S.104/Z.22); es wird ihr jedoch mitgeteilt, man würde sie  pünktlich am nächsten Tag dort abholen und zum Flughafen fahren (S.105/Z.3) werde. Marias‘ Nachfrage „Sicher?“ (S.105/Z.6) zeigt, dass sie nur noch wenig Vertrauen in die Reiseleitung und gleichzeitig Angst hat, diese würde ihr Versprechen nicht einhalten. Maria  spricht sich Mut zu, redet sich ein, dass alles bald vorbei sei; jedoch kreisen ihre Gedanken um die Abreise, dass sie lange nicht einschlafen kann (S.105/Z.16f.). Ein weiteres Zeichen dafür, dass sie noch krampfhaft versucht, eine mittlerweile  größtenteils zerbröckelte Fassade aufrecht zu erhalten, indem sie sich zwanghaft einredet, dass alles sich noch zum Guten drehen würde (S.106/Z.8) und der Bus noch erscheinen würde, obwohl sie innerlich selbst daran zweifelt; beispielsweise erwacht sie noch vor dem Klingeln des Weckers und stellt sich - wie besprochen - vor das Hotel, was man auf ihre Skepsis gegenüber des Versprechens der Reiseleitung zurückführen kann. Die Verzweiflung nimmt überhand, als auch nach großer Verspätung der Bus noch nicht erschienen ist; im leeren Hotel versucht sie durch Schreien, Rufen und Klopfen auf sich aufmerksam zu machen (S.106/Z.18). Der Raumwechsel  von dem alten in ein anderes Hotel, welches sich letztlich als marode  und leer entpuppt, spiegelt das schon größtenteils zerstörte Bild der Perfektion, das Maria noch in sich trägt. Aus der Gemeinschaft, in der sie noch ein wenig Kontrolle hatte und mit der sie sich ihr Leid noch teilen konnte, entrissen, ist sie nun völlig auf sich allein gestellt  und der neuen Welt, Sprache und Kultur hilflos ausgeliefert. Auch beginnt sie nun, leicht zu weinen  (S.106 / Z.27) und das Hungergefühl meldet sich langsam (S.107/Z.5). Hilfesuchend geht sie in ein Geschäft, mitunter um sich Essen zu besorgen; die Tatsache, dass der Ladenbesitzer ihre Geldwährung nicht akzeptiert, lässt sie erneut in Tränen ausbrechen (S.108/Z.9). Ihre Angst, die sich langsam zur Panik steigert, wird zusätzlich verstärkt, als selbst ein Polizist, von dem sie eigentlich Hilfe erwarten würde , auf ihre  hilfesuchenden Gebärden nicht reagiert, sondern sie mit zur Polizeistation nimmt (S.109/Z.3,10). Dort erklärt man ihr, dass ihr Visum abgelaufen sei, man ihr aber nicht helfen könne, beispielsweise in einer Botschaft, da das verboten sei (S.111/Z.23). Diese Tatsache bringt Maria nahe an eine Ohnmacht und versetzt sie in haltloses Weinen, was den Höhepunkt ihrer Verzweiflung darstellt. Dann kommt es gleichsam zu einer Wende, als sie langsam resigniert („Alle Kräfte hatten sie verlassen, das Ganze kam ihr nicht mehr wirklich vor (…)“ (S.112/Z.13), statt weiterhin zu versuchen, auf sich aufmerksam zu machen. Daran erkennt man, dass ihr Bild von der eigenen, erdachten Realität vollends nichtig ist und die „reale“ Wirklichkeit, der anderen Kurzgeschichte, in der sie sich jetzt befindet, sie erreicht hat. Ein kurzer Hoffnungsschimmer befreit sie für einen Moment aus ihrer Starre, als sie ihren Mann erreicht (S.113/Z.11). Da die Verbindung jedoch schwach ist, versteht sie ihr Mann nicht und das Gespräch wird abrupt durch den mittlerweile leeren Akku unterbrochen (S.114/Z.4). Dies demonstriert die gekappte Verbindung zu ihrem alten Leben und betont erneut den „Neubeginn“ in einer für sie noch unwirklich erscheinenden Realität; ihr Bild einer verzerrten Wirklichkeit ist aufgelöst. Am Ende des Telefongesprächs unterstreicht ein allwissender Erzähler durch eine Vorausdeutung, dass es Maria niemals gelingen werde, wieder mit ihrem Mann Verbindung aufzunehmen. Sie ist also dazu verdammt, in dieser Kurzgeschichte zu bleiben, in der sie nunmehr nicht mehr als bekannte Schriftstellerin anerkannt ist, zurück bleibt die „reale“ Wirklichkeit. Maria registriert nun, dass sie allein auf sich gestellt ist und sie sich dem neuen Leben stellen muss; ab diesem Zeitpunkt scheint es ihr nicht mehr darum zu gehen, nach Hause zu kommen, sondern sie kämpft ums Überleben. Sie trinkt beispielsweise leicht verunreinigtes Wasser, das sie vor ein paar Tagen noch angeekelt abgelehnt hätte (S.115/Z. 20). Ihre letzte Chance sieht sie darin, bei einer einheimischen Familie zu bleiben, bis sie die Sprache gelernt hat, und zu versuchen, etwas Geld zu bekommen (S.118/Z.1), was ihr in ihrer gegenwärtigen Situation am tröstlichsten erscheint, obwohl dies lediglich ein erneutes Aufzeigen von Marias‘ verklärtem Weltbild ist, da ihre Pläne schier unmöglich und naiv sind. Dadurch, dass sich Maria von ihrem altem Leben so entfernt fühlt und resigniert, kommt ihr der eigne ihr Mann in dem Moment fremd vor, wie „in einem vergangenen Leben“ (S.118/Z.25), denn er befindet sich aus Sicht des Lesers schließlich auch in einer ganz anderen Kurzgeschichte. Offenbar hat sich Maria an diesem Punkt wohl oder übel mit ihrer Situation abgefunden, oder ihr scheint klar zu sein, dass ihr sonst keine Möglichkeit mehr bleibt. Als sie am Schluss in einem Traum auf sich selbst herabsieht, ist dies ein letztes und erneutes Zeichen der absoluten Resignation; sie lässt alles über sich ergehen und ihr Körper zeigt eine Art von „Betäubung“, womöglich als Schutzfunktion, da sie momentan offenbar nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann (S.119/Z.1). Auch dies ist ein häufig verwendetes Darstellungsmittel in metafiktionalen Texten.

Betrachtet man nun die Geschichte insgesamt, fällt auf, dass sich eine feine Ironie durch den ganzen Text zieht. Unfreundliche Taxifahrer, deren Sprache sie nicht versteht, eine „Willkommensspeise“, die aus Schweinefleisch mit kalten Kartoffeln und Mayonnaise besteht, eine Reiseleitung, die verspricht, dass „jeder Wunsch erfüllt werde“, die angekündigte „Delegation der besten Reisejournalisten“ entpuppt sich als Horde, die überwiegend aus Praktikanten besteht, und „Festlichkeiten, die kein Ende nehmen werden“  - wobei am Ende jedoch das Gegenteil der Fall ist (S.99/Z.16ff) -, sind Zeichen dafür. Einen Höhepunkt dieser bitteren Ironie  bildet die Szene, in der die verhärmte, obdachlose Maria in einen Buchladen kommt und dort ihr in Deutschland gefeiertes Werk stehen sieht, aber von den dort Anwesenden nicht erkannt wird (S.115/Z.26). Bezogen auf den Titel des Buches „Ruhm“  veranschaulicht dies dessen eigentliche Nutzlosigkeit - er nützt ihr in ihrer momentanen Situation nichts, sondern wirkt eher wie Hohn und Spott (S.116/Z.14 „Sie haben Recht. Es ändert nichts.“). Daran anknüpfend kann man auf die Erzählsituation als auktorial einerseits und personal andererseits eingehen.  Er greift nicht direkt in das Geschehen ein, wie es zum Beispiel in „Rosalie geht sterben“ der Fall war, als Rosalie mit ihrem Autor Leo Richter über ihren Tod verhandelt. Kehlmann beschreibt nur manchmal Marias‘ Gefühle und Zustände (S.100/Z.8-13 „bedrückt“, „sie schlief unruhig“); oft hält er jedoch eine Distanz zu Maria und dem Leser müssen sich ihre Stimmungen selbst veranschaulichen (S.103/Z.18 „ Der Akku war fast leer. Seufzend schaltete sie es aus.“) Stattdessen schickt Kehlmann seine Protagonistin in ihr von ihm verfasstes Unglück, ohne dass sie sich dagegen wehren kann und ihm ihre Verzweiflung schildern kann. Diese Art des  Schreibens zeigt eine gewisse „Brutalität“ Kehlmanns gegenüber Maria. Sie hat keine Chance, dem neuen Leben zu entgehen, einem Leben, das sie von der Lebensweise her nicht mag, sie verängstigt und verzweifeln lässt, und das, obwohl sie, wie von Kehlmann zu Beginn beschrieben, ein gemütlicher Mensch ist, der Belastungen nicht standhält (S.96/Z.16). Die Brutalität des Autors besteht letztlich darin eine nicht geeignete Figur aus einem anderen Text in eine Kurzgeschichte zu versetzen, deren Plot sie nicht gewachsen ist.

Abschließend stellt sich die Frage, auf was Kehlmann mit der Darstellung der Entwicklung von Maria aufmerksam machen will, was er kritisiert und vor allem, wogegen sich die Ironie des Erzählstils richtet. Zunächst ist festzustellen, dass Kehlmann  in seiner Geschichte keine Wertung über Maria festhält, sondern höchstens das Geschehene ironisiert. Eine Absicht Kehlmanns wird sein, uns die Schwachstellen des modernen Technik – und Medienzeitalters vor Augen zu führen- Marias‘  Scheitern beginnt, als ihr Handy versagt und sie von  ihrem alten Leben abgeschnitten ist. Sie verlässt sich zu sehr  auf ihr Mobiltelefon und sieht es als selbstverständlich an, bis dessen Versagen ihr den Boden unter den Füßen reißt und sie isoliert ist. Nun ist sie einer anderender Realität ausgeliefert, zwangsweise beginnt für sie ein neues Leben. Des Weiteren schildert Kehlmann die Vergänglichkeit von Ruhm und dessen eigentliche Sinnlosigkeit. Ruhm ist nur das Ergebnis von Geschichten, die über Menschen erzählt werden.; Mmit einem bloßen Titel oder Anerkennung kann Maria in Zentralasien nicht überleben; dort zählen andere Qualitäten,  wie  Belastbarkeit und Durchhaltevermögen, beides besitzt sie jedoch nicht. Marias  Weltbild sieht sie als selbstverständlich an; dieses ist auf ihrem Ruhm aufgebaut und gibt ihr Sicherheit. Diese Wirklichkeitsauffassung versucht sie auf alle Situationen zu übertragen; beispielsweise stellt sie nichts von dem, was ihr passiert in Frage, sondern nimmt es schweigend hin, was ihr Beharren auf ihr Weltbild zeigt. Dies kann sie jedoch nur mit Naivität durchsetzen. Eine Wirklichkeit ist nämlich nicht vorhanden, da es zwei Realitäten gibt; eine in Marias „Umkreis“ und die in Zentralasien. Aus ihrer „gewohnten“ Realität entrissen, findet sie sich in einer neuen nicht zurecht. Vergleichbar ist dies mit den Menschen, die in Zentralasien in einer Diktatur leben und diese ebenfalls als selbstverständlich hinnehmen, da sie keine andere Politik kennen. Sie würden sich vermutlich in einer Demokratie nicht zurechtfinden, ähnlich wie nach Ende der Weimarer Republik, als die Menschen sich wieder nach einem „Alphatier“, das Ordnung und Regeln einbringt, gesehnt haben. Diese Darstellung der zwei Wirklichkeiten lässt zu dem Schluss kommen, dass Wirklichkeit nicht existent ist, da es keine allgemeine Fassung davonobjektive Realität gibt. Es gibt nur Geschichten.