Beispiel für eine Textanalyse (Schülerarbeit)

 

Text: Brief vom 16.Junius 1771. Aus: Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther)

 

Gliederung

 

A. Einleitung

- Wirkung des «“Werther“-Romans auf Goethes Zeitgenossen

- Gefühlsüberschwang in der Epoche des „Sturm und Drang“

 

 

B. Hauptteil

I. Textwiedergabe

- Werther erzählt seinem Freund Wilhelm von einem Ausflug vor die Stadt

- Werther tanzt mit Lotte.

- Der Name des Verlobten bringt Werther in Verwirrung.

- Lotte beruhigt die vom Gewitter Geängstigten durch ein Pfänderspiel.

- Nach dem Gewitter küsst Werther Charlottes Hand.

 

II. Sprachliche und stilistische Analyse

1. Sprache

- expressiv

- unregelmäßiger Satzbau

- Ellipsen

- viele Adjektive

 

2. Stilmittel

- Metaphern

- Vergleiche

- Ausrufe

- Wortzusammenziehungen

- Wiederholungen

- Hendiadyoins

 

C. Schluss

- Man sollte Werther lesen, weil er zeigt, wie man seine Gefühle ausdrücken kann.

- Werther scheitert, weil er in der Gesellschaft nicht als Individuum anerkannt wird.

- Goethe wendet sich mit der Darstellung von Werthers Scheitern gegen einen kompromisslosen, „revolutionären“ Individualismus, aber auch gegen die noch vom Absolutismus geprägte Gesellschaftsordnung, in der Werther keine Anerkennung findet.

 

Aufsatz

Johann Wolfgang von Goethe schrieb in seiner „Sturm und Drang“-Phase den Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“, der eine große Resonanz beim Publikum fand. Der Held setzt seinem Leben nach einer einer unglücklichen Liebe und nach an einem Fürstenhof erfahren Demütigungen ein Ende. Es gab viele Leser des Romans, die sich nach der Lektüre Werther zum Vorbild nahmen. Es entwickelte sich geradezu eine Selbstmordwelle. Werther, der von zu Hause geflohen ist, weil er die bürgerlichen Normen seines Elternhauses ablehnt, schreibt seinem Freund Wilhelm seine Erlebnisse in einem für diese Zeit charakteristischen Gefühlsüberschwang, der sich aus der Liebe, aus Naturerfahrungen, aber auch aus Leseerfahrungen entwickelt. Werther scheitert nicht zuletzt, weil ihn dieser Gefühlsüberschwang „überwältigt“.

Der vorliegende Brief vom 16.Junius 1771 beschreibt einen Ausflug vor die Stadt, den Werther mit einer Gesellschaft von jungen Leuten unternimmt. Werther schildert zu Anfang die Eleganz, mit der seine Angebetete, Charlotte, tanzt und ergeht sich in Lobreden über ihre Anmut. Schließlich fordert er sie selbst zum Tanz auf. Nun ist er völlig hingerissen. Werther schwört seinem Freund sogar, dass das Mädchen, das er liebt, nie mit einem anderen tanzen soll. Er ist ganz außer sich vor Glück darüber, dass sie mit ihm tanzt, dass sie seine, für sie aufgehobenen Orangen isst. So ist er, als der Name von Lottes Verlobten Albert fällt, völlig verdutzt. Er hatte vorher noch nicht bedacht, welche Bedeutung diese Verbindung für seine Beziehung zu Lotte haben würde, deshalb verwirrt er die Reihen der Tanzenden. Plötzlich zieht ein Gewitter auf und viele der Frauen und Mädchen werden ängstlich und verlangen nach Hause zu fahren, während sich die Kavaliere besorgt um sie kümmern. Lotte hat schließlich einen rettenden Einfall, sie organisiert ein Pfänderspiel und es gelingt ihr so, sich selbst und die übrigen zu trösten und zu beruhigen. Werther glaubt von ihr bei dem Spiel, in der Unachtsame Ohrfeigen verabreicht bekommt, besonders stark ausgezeichnet.

Als das Spiel beendet ist, ist auch das Gewitter davongezogen und Lotte und Werther begeben sich zusammen aus dem Saal. Die Frische und Reinheit der Luft erinnert Lotte an das Gedicht „Maifeier“ von Klopstock. Übermannt von den erdrückenden und mitreißenden Gefühlen, die die Erinnerung an dieses Gedicht in ihm hervorruft, küsst Werther Lottes Hand.

Der Text hat, entsprechend der gefühlsbetonten Grundhaltung des „Sturm und Drang“, eine sehr expressive Sprache. Sie ist besonders gekennzeichnet durch einen sehr unregelmäßigen Satzbau, der oft durch Ausrufe und Einschübe unterbrochen wird. Der Strom der Gefühle erlaubt es dem Dichter nicht, seine Gedanken in strenge Regeln und Formen zu fassen, zumal die rationalistische Literaturauffassung der aufklärerischen Regelpoetik von Goethe abgelehnt wurde.

Die Ausrufe unterstützen diese Wirkung, haben aber in diesem Ausschnitt aus dem Briefroman noch eine weitere wichtige Funktion, sie beziehen den Leser, der gleichsam die Rolle des Freundes Wilhelm übernimmt, in die Handlung ein. Er wird Zeuge der innersten Regungen des Helden und empfindet so mit, wenn er etwa mit „Du verstehst mich!“ oder „wie wohl mir war ... magst du fühlen“, als Eingeweihter angesprochen wird. Der Ausruf und die Anrede schaffen eine Verbindung zwischen dem Leser und der Handlung.

Der Dichter gebraucht in seinem Drang, alles zu beschreiben und auszudrücken, seien es auch die unbeschreiblichsten Gefühle, viele Vergleiche und Metaphern. So wird etwa das Gefühl beim Tanzen bildlich dargestellt: „wir schlangen uns umeinander herum“, „wie die Sphären umeinander rollten“. So wird der Tanz anschaulich gemacht, bei dessen Beschreibung der Autor auch Hyperbeln (z.B. „das liebenswürdigste Geschöpf“) verwendet, um die Stärke der Bewunderung für Lotte auszudrücken. Das Mitgerissen-Sein des Werther kommt auch in den vielen Wortzusammenziehungen („mir's“, „kann's“, „ging's“, etc.) zum Ausdruck.

Als Werther den Namen der Verlobten hört, gerät er in völlige Verwirrung. Dies drückt Goethe in einem ziemlich verworrenen Satz aus, der durch einen Gedankenstrich von dem verhergehenden Text abgesetzt ist. Die Überraschung zeigt sich im Wiederholen der Tatsache, dass es für ihn nichts Neues sei, dass Lotte verlobt ist. Seine verworrenen Gedanken zeigen sich im umständlichen Satzbau. Dann folgt der Ausruf „genug“, und die folgende Verwirrung des Tanzes wird durch die beiden Hendiadyoins „drunter und drüber“ und „Zerren und Ziehen“ dargestellt. Dieses Chaos, das von Lotte gemeistert wird, findet seine Fortsetzung in dem Gewitter, das heraufzieht und die Gesellschaft in Unruhe versetzt. Hier unterbricht Werther seine Erzählung und reflektiert über den Eindruck, den ein Unglück macht, wenn es nahtlos auf ein Vergnügen folgt. Damit meint er nicht nur das Gewitter, sondern auch seine eigene Gefühlslage. Und wieder ist es Lotte, die die Situation rettet und das schon erwähnte Spiel organisiert. Sie erscheint als die Handelnde, während Werther sein Gefühl nicht im Handeln zum Ausdruck bringen kann. Im weiteren Verlauf des Romans fordert er sie nicht auf, die Verlobung zu lösen, sondern ergeht sich in seinen tiefen Gefühlen und in schmerzlichem Selbstmitleid. Werther scheitert ebenso an der eigenen fruchtlosen Selbstreflexion, wie an den Normen und Anforderungen der Gesellschaft. Das Gewitter ist das im Hintergrund lauernde Unglück, der Selbstmord Werthers.

Die Beschreibung des Pfänderspiels erscheint lustig und heiter im Gegensatz zum Unwetter aufgrund der Lautmalerei („patsch!“) und des Ausrufs („Nun gebt acht!“) Die Bewegung wird durch unvollständige und unregelmäßige Sätze dargestellt. („Eins fing der erste, eins, zwei, drei, der folgende und so fort ...“ ... „Und immer geschwinder.“).

Der Text steigert sich zu der Szene hin, in der Werther Lottes Hand küsst. Hier häufen sich Hyperbeln („erquickendste“, „wonnevollste“) und Metaphern („Strom der Empfindungen“, etc.), die alle die Atmosphäre beschreiben sollen, die die Erinnerung an Klopstocks Gedicht schafft. Werther wendet sich schließlich sogar an diesen Dichter („Edler!“), so sehr ist er beeindruckt.

Weiterhin enthält der Text sehr gehäuft Adjektive und adjektivierte Verben, die den Leser besonders eindringlich den Handlungsort, die Personen und die Atmosphäre veranschaulichen sollen.

Die ganze Spannweite der Gefühle, die in diesem Text dargestellt werden, lässt sich von uns heute schwerlich nachvollziehen, da wir weit von der Gedankenwelt der Epoche der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang entfernt sind. Die Literaten des „Sturm und Drang“ suchten den Menschen als Individuum darzustellen, nicht als beispielhaften Charakter, sondern als empfindenden, besonderen Menschen, der auf sein Recht auf selbstbestimmte Bildung und Entwicklung pocht. Es wäre falsch, den Gefühlsüberschwang des Textes als „überspannt“ zu kritisieren. Werthers Nonkonformismus, seine Ablehnung der Gesellschaft und seine Flucht in die Natur haben gute Gründe, denn er fordert für sich das, was Aufklärer allgemein für die Menschheit gefordert haben, das Recht, ein selbstbestimmtes Individuum zu sein. Die Natur bietet für Werther eine Möglichkeit der Selbstfindung und der Entwicklung seiner Empfindungen, aber er muss doch in der Gesellschaft leben und tätig sein, was ihm nicht gelingt, weil diese noch durch die absolutistische Ständeordnung geprägt ist. Die Natur ist hier im Text auch als bedrohlich dargestellt, eine vollständige Verbindung mit der Natur muss Werther versagt bleiben, daran verzweifelt er. Seine Liebe zu Lotte ist im Text eingebettet in die Naturerfahrung, in eben die bedrohliche Erfahrung eines Gewitters, einem Symbol für das Unglück Werthers.

Goethe wendet sich mit der Darstellung von Werthers Scheitern sowohl gegen übertriebene Naturschwärmerei und kompromisslosen Individualismus, als auch gegen die noch vom Absolutismus geprägte Gesellschaftsordnung, in der Werther keine Anerkennung findet.